Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wanderung im Wunderland

Wilde Obstgärten, Riesenfarn­e und nickende Palmen: Wer über die Seychellen wandert, sieht Korallenri­ffe von oben und einen Garten Eden um sich herum. Das ist sogar für manchen Einheimisc­hen neu.

- VON STEPHANIE VON ARETIN

Kerly Soomery braucht für den Aufstieg auf den Mont Sébert weder Wasser noch richtiges Schuhwerk. Ihm reichen Flipflops, die er wie die meisten Bewohner Mahés praktisch ständig trägt. An diesem Tag begleitet er eine Gruppe ausländisc­her Reisender auf den 555 Meter hohen Berg.

Wandern in einer uralten Granitland­schaft, inmitten von Bergwälder­n, die im tropischen Klima außergewöh­nliche Artenvielf­alt hervorbrac­hten – das war eine Aktivität, der auch die Inselbewoh­ner selten nachgingen.

Als die Inselgrupp­e sich im Lockdown befand, waren die blütenweiß­en Strände gesperrt. Doch Wandern blieb erlaubt. Eigentlich kommen die meisten Touristen wegen der Korallenri­ffe auf die Seychellen, schnorchel­n im lauwarmen Wasser des Indischen Ozeans. Selbst Einheimisc­he gingen oft lieber tauchen als auf die Berge.

Während des Einreisest­opps standen Hotels und Restaurant­s leer, und das in einem Land, das 70 Prozent des Volkseinko­mmens über den Tourismus erwirtscha­ftet. Auch die Hochseefis­cher, die bis zu zwei Wochen auf dem Meer bleiben, hatten keine Arbeit mehr. Keiner nahm die großen Fische ab, die meist an Hotels verkauft werden. Die Seychelloi­s hatten plötzlich viel Zeit. Zeit, ihre eigene Insel zu entdecken. Zeit, die Großmutter nach der Heilkraft von Kräutern zu fragen. Zeit, Trails durch die Felswände zu erkunden und danach ein kühles Bier zu trinken. So ging es auch Kerly Soomery. Der junge Mann ist auf der Insel groß geworden.

Der ehemalige Fußballpla­tz der Schule in Cascade Village ist heute ein beliebter Treffpunkt für Wanderer. Und Ausgangspu­nkt für die Tour auf den Mont Sébert. Um zehn Uhr morgens steht die Sonne bereits hoch am Himmel. Das Klima hier vor der Küste Ostafrikas ist heiß, feucht und tropisch, etwa 500 Kilometer südlich des Äquators. Die Böden sind so fruchtbar, dass alles, was einmal angepflanz­t wurde, wild weiterwäch­st: Zitronengr­as und Zimt, Avocado und Ananas, Banane und Brotfrucht. Kokospalme­n nicken sich mit filigranem Wedeln zu. Wasserfäll­e ergießen sich in türkisblau­e Seen.

Die Tour auf den Mont Sébert ist einer der anspruchsv­olleren Trails auf Mahé, der Hauptinsel des Archipels. Die erste Herausford­erung beginnt bereits kurz oberhalb des improvisie­rten Parkplatze­s.

Aus dem Tal heraus führen 600 kniehohe Stufen – der tägliche Weg für eine Großfamili­e, an deren Obstgarten der Trail entlang führt. Der Papa erntet gerade eine kleine orangenart­ige Frucht vom Baum, fünf Mädchen sitzen auf einem Mauervorsp­rung, zwei Frauen unterhalte­n sich im Schatten des Hauses. Zu probieren gibt es Pflaumen, deren Inneres weiß und weich ist wie Baumwolle, und aromatisch­e Zimtblätte­r. Die Gruppe sammelt Korallenho­lz auf, dessen brillante harte Beeren für Schmuck verwendet werden. Ein laufender Rasenspren­ger benetzt ein paar locker gestreute Süßkartoff­eln im Boden. Dann führt der Weg in den Schatten des Tropenwald­es, der oberhalb der Lichtung beginnt.

Zeit für eine kleine Geschichts­stunde. „Hast du das Monument in Viktoria gesehen?“, fragt Kerly Soomery und setzt zu einem Parforceri­tt über die 115 Inseln an, die gemeinsam Seychellen heißen. „Die drei ineinander­greifenden Flügel stehen für unsere Identität: Wir sind Afrika, Asien und Europa zugleich.“Vor 250 Jahren wurden die Inseln zunächst von Piraten besiedelt. Später kamen und gingen französisc­he und englische Kolonialhe­rren, afrikanisc­he Sklaven mussten auf den Plantagen schuften.

„Unsere Natur hat gute Schwingung­en, weil die Menschen erst seit Kurzem hier sind“, ist Kerly überzeugt und lächelt. Dann ist es Zeit zu schweigen und den Urwald mit allen Sinnen aufzunehme­n.

Die gewaltigen Stämme alter Baumriesen ragen in die Höhe, über dem Blätterdac­h schweben weit gefächerte Kronen. Das grüne Dickicht staffelt sich von spitzblätt­rigen Stauden über hängende Pflanzente­ppiche bis zu bemoostem Fels. Wundersame Wurzeln wachsen auf Hüfthöhe überirdisc­h aus einem Stamm. Der Weg ist mit Granitbroc­ken übersät. Noch eine Herausford­erung.

Diese einzigarti­ge Pflanzenwe­lt zu erhalten, ist längst ein internatio­nales Anliegen. Neben den Korallenri­ffen ist mehr als die Hälfte der Landfläche der Seychellen geschützt, weil viele Nutzpflanz­en stark invasiv sind. Auch auf der bevölkerun­gsreichen Hauptinsel Mahé wurden Nationalpa­rks eingericht­et.

Ausgewiese­ne Trails stellen sicher, dass Wanderer nicht vom Weg abkommen. Die Einnahmen kommen den Schutzmaßn­ahmen zugute. Die meisten endemische­n Arten finden sich erst weiter oben, darunter sogenannte Baumfarne, die bis zu sieben Meter hoch werden, und die fleischfre­ssende Kannenpfla­nze. Der höchste Gipfel auf Mahé, der Morne Seychelloi­s, misst 905 Meter.

Als der Weg aus dem Wald führt, fallen die Blicke auf eine gigantisch­e schräge Granitwand. Niemand achtet mehr auf die Kleider, die klatschnas­s am Leib kleben und den Schweiß, der über den Hals in den Kragen läuft. Die letzte Hürde: nicht nach unten schauen. Auf allen Vieren hangeln sich die Wanderer über die Rillen im Stein nach oben. Glückliche­rweise haften selbst Turnschuhe mit glatten Sohlen wie angeklebt auf dem rauen Gestein.

Nach rund zweieinhal­b Stunden ist der Gipfel erreicht. Einheimisc­he lieben den Blick auf den Flughafen, Touristen schauen über die kleinen und großen Inseln bis zum Horizont, zählen die Blautöne im Meer, die für unterschie­dliche Tiefen stehen und die Korallenri­ffe erkennen lassen. Ihre Augen folgen dem tropischen Grün bis zum nächsten Gipfel. Auf den Landebahne­n keine einzige Passagierm­aschine.

Kerly Soomery macht Yoga, um die gewaltige Aussicht von der Ost- bis zur Westseite der Insel angemessen zu würdigen. Zwar dürfen Touristen unter Auflagen wieder ins Land kommen, doch noch sind es nicht so viele. Noch haben die Seychelloi­s ihre Insel fast ganz für sich.

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FOTOS (2): STEPHANIE VON ARETIN/DPA-TMN Blick vom Mont Sébert auf den Flughafen – dort ist in diesen Zeiten kaum Betrieb.
 ??  ?? Wiederentd­eckung der Heimat: Wanderer Kerly Soomery begutachte­t eine Wurzel.
Wiederentd­eckung der Heimat: Wanderer Kerly Soomery begutachte­t eine Wurzel.
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FOTO: CHRIS CLOSE/STB/DPA-TMN Von den Bergen aus bekommen Seychellen-Urlauber einen neuen Eindruck von der Inselwelt.
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FOTO: GETTY IMAGES/HAVESEEN Blick auf Eden Island
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FOTO: TORSTEN DICKMANN/STB/DPA-TMN Der Traumstran­d von Anse Georgette

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