Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Was vom Impfen abhält
Es gibt hartnäckige Impfgegner – aber das ist eine Minderheit von etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die übrigen Menschen, die sich nicht impfen lassen, haben ganz unterschiedliche Motive und soziale Hintergründe.
Es beginnt ja schon mit den Bezeichnungen: Sind Menschen, die sich nicht impfen lassen Impfverweigerer, Impfgegner, Impfskeptiker, Impfmuffel? Hält sie Sorge um ihre Gesundheit ab, mangelndes Vertrauen in Gesundheitssystem und Regierung, Trägheit? Die Hälfte der Deutschen ist inzwischen vollständig geimpft, doch die Kampagne ist ins Stocken geraten – trotz gefüllter Kühllager. Derzeit vermeldet das RKI nur noch um die 400.000 Impfungen pro Tag. Wenn das Impftempo weiter so niedrig bleibt, dürfte das Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Infektionszahlen haben. Und damit für das soziale Leben, wenn in wenigen Wochen die Schulen wieder öffnen.
Experten gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung sich auf keinen Fall impfen lassen wollen. Bei diesen Menschen ist die Entscheidung gefallen und entspringt so festen Überzeugungen, dass sie weder durch Argumente noch niederschwellige Impfangebote umzustimmen sein werden. Da in Deutschland aus guten Gründen keine Impfpflicht besteht, werden also zehn Prozent der Bevölkerung vermutlich ohne Impfung bleiben. Doch was ist mit dem Rest?
Das RKI geht aufgrund eigener Befragungen davon aus, dass in Deutschland grundsätzlich eine Impfquote von 88 Prozent möglich wäre. Es gibt also ein großes Potenzial an Zögerern. An der Uni Erfurt beschäftigen sich Wissenschaftler am Lehrstuhl für Gesundheitskommunikation seit Anfang 2020 mit dieser Gruppe. Eine Ursache, sich bewusst gegen das Impfen zu entscheiden, obwohl keine gesundheitlichen Gründe dagegen sprechen, ist mangelndes Vertrauen. Das kann sich auf die Sicherheit der Impfstoff-Prüfverfahren beziehen, auf das Gesundheitssystem oder Staat und Regierung allgemein. Eine andere Gruppe hält die Impfung nicht mehr für notwendig. Das hat vor allem mit den sinkenden Infektionszahlen ab Ende April zu tun. „Damit hat auch die Risikowahrnehmung der Menschen abgenommen“, sagt Lars Korn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Gesundheitskommunikation in Erfurt. „Man hört nicht mehr so viel von der Pandemie, hat niemanden mehr im Bekanntenkreis, der krank wird, dann erscheint einem die Bedrohung nicht mehr so groß, und man hält es für weniger nötig, sich zu schützen.“
Dann gibt es laut der Befragungen eine Gruppe von Leuten, die vor der Impfentscheidung ein großer Informationshunger umtreibt. Sie surfen durchs Netz, stoßen früher oder später auf Impfgegner-Seiten oder auf Geschichten von Geimpften, die von Nebenwirkungen berichten. „Solche Geschichten sind oft schwer einzuordnen und können Angst machen“, sagt Korn. Aus Informationshunger wird Skepsis oder Weigerung.
Einen weiteren Faktor sehen die Forscher im Gemeinschaftssinn. Wem das Kollektiv, in dem er lebt, wichtig ist, der ist zugänglich für das Argument, dass Geimpfte nicht nur sich selbst vor schwerer Erkrankung schützen, sondern auch die anderen. Kinder zum Beispiel. Allerdings gibt es Trittbrettfahrer, die diesem Gedanken zwar zustimmen, sich selbst aber ausnehmen. Sie wollen vom steigenden Immunisierungsgrad in der Bevölkerung profitieren, die Risiken aber den anderen überlassen.
Es gibt noch diverse andere Barrieren: Darunter können sprachliche Hürden fallen etwa bei Menschen mit Migrationshintergrund, die noch nicht lange in Deutschland leben. Es kann aber auch darum gehen, dass es Impfbereiten schwerfällt, online Termine zu buchen.
„Ein höherer Bildungsabschluss befähigt eher dazu, die Kompetenz von Ärzten in Frage zu stellen“
Marvin Reuter
Institut für Medizinische Soziologie
Dass ihnen die Festlegung auf einen Termin zeitlich nicht passt oder sie Schwierigkeiten mit der Organisation ihres Alltags haben. Bei den Hürden kommen soziale Faktoren ins Spiel.
Klischees führen aber auf falsche Fährten. Ein höherer Bildungsgrad etwa spricht nicht automatisch für höheres Vertrauen ins Gesundheitssystem, wie Studien zeigen. Der Zusammenhang sei noch nicht ausreichend erforscht, sagt Marvin Reuter vom Institut für Medizinische Soziologie an der Düsseldorfer Heine-Uni. „Eine Vermutung ist, dass ein höherer Bildungsabschluss eher dazu befähigt, die Kompetenz von Ärzten und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems in Frage zu stellen.“Ein anderer Vertrauensfaktor sind bisherige Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem. Weil die Kausalzusammenhänge kompliziert sind, sei es schwierig milieuspezifische Strategien zu entwickeln, um auf Impfzögerer zuzugehen.
Auch Dietrich Eckeberg, Migrationsexperte bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, hält etwa soziale Faktoren für entscheidend, nicht die ethnische Zugehörigkeit. Das Gesundheitssystem müsse Menschen, die unter schwierigen sozialen Bedingungen lebten, in ihrem Umfeld aufsuchen. Das gelte auch für die Kommunikation. Die Kampagne fürs Impfen müsse verstärkt die digitalen Netzwerke bedienen. Eine besondere Fürsorgepflicht des Staates sieht Eckeberg bei den Flüchtlingsunterkünften, in denen es zum Teil noch eine sehr niedrige Impfquote gibt. Wer Abschiebung fürchtet, erlebt den Staat nicht als fürsorglich. „In unsicheren Lebenslagen grassieren Gerüchte“, sagt Eckeberg. Geflüchtete haben etwa Sorge, dass sie eher in den Flieger gesetzt werden, wenn sie geimpft sind. Eckeberg plädiert dafür, dass in Flüchtlingseinrichtungen verstärkt Menschen in die Aufklärung einbezogen werden, die in der Muttersprache der Leute von ihrer eigenen Impfung berichten. Direkter Erfahrungsaustausch wirkt eben mehr als tausend Handzettel.