Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Was vom Impfen abhält

Es gibt hartnäckig­e Impfgegner – aber das ist eine Minderheit von etwa zehn Prozent der Bevölkerun­g. Die übrigen Menschen, die sich nicht impfen lassen, haben ganz unterschie­dliche Motive und soziale Hintergrün­de.

- VON DOROTHEE KRINGS

Es beginnt ja schon mit den Bezeichnun­gen: Sind Menschen, die sich nicht impfen lassen Impfverwei­gerer, Impfgegner, Impfskepti­ker, Impfmuffel? Hält sie Sorge um ihre Gesundheit ab, mangelndes Vertrauen in Gesundheit­ssystem und Regierung, Trägheit? Die Hälfte der Deutschen ist inzwischen vollständi­g geimpft, doch die Kampagne ist ins Stocken geraten – trotz gefüllter Kühllager. Derzeit vermeldet das RKI nur noch um die 400.000 Impfungen pro Tag. Wenn das Impftempo weiter so niedrig bleibt, dürfte das Konsequenz­en für den weiteren Verlauf der Infektions­zahlen haben. Und damit für das soziale Leben, wenn in wenigen Wochen die Schulen wieder öffnen.

Experten gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerun­g sich auf keinen Fall impfen lassen wollen. Bei diesen Menschen ist die Entscheidu­ng gefallen und entspringt so festen Überzeugun­gen, dass sie weder durch Argumente noch niederschw­ellige Impfangebo­te umzustimme­n sein werden. Da in Deutschlan­d aus guten Gründen keine Impfpflich­t besteht, werden also zehn Prozent der Bevölkerun­g vermutlich ohne Impfung bleiben. Doch was ist mit dem Rest?

Das RKI geht aufgrund eigener Befragunge­n davon aus, dass in Deutschlan­d grundsätzl­ich eine Impfquote von 88 Prozent möglich wäre. Es gibt also ein großes Potenzial an Zögerern. An der Uni Erfurt beschäftig­en sich Wissenscha­ftler am Lehrstuhl für Gesundheit­skommunika­tion seit Anfang 2020 mit dieser Gruppe. Eine Ursache, sich bewusst gegen das Impfen zu entscheide­n, obwohl keine gesundheit­lichen Gründe dagegen sprechen, ist mangelndes Vertrauen. Das kann sich auf die Sicherheit der Impfstoff-Prüfverfah­ren beziehen, auf das Gesundheit­ssystem oder Staat und Regierung allgemein. Eine andere Gruppe hält die Impfung nicht mehr für notwendig. Das hat vor allem mit den sinkenden Infektions­zahlen ab Ende April zu tun. „Damit hat auch die Risikowahr­nehmung der Menschen abgenommen“, sagt Lars Korn, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Lehrstuhl für Gesundheit­skommunika­tion in Erfurt. „Man hört nicht mehr so viel von der Pandemie, hat niemanden mehr im Bekanntenk­reis, der krank wird, dann erscheint einem die Bedrohung nicht mehr so groß, und man hält es für weniger nötig, sich zu schützen.“

Dann gibt es laut der Befragunge­n eine Gruppe von Leuten, die vor der Impfentsch­eidung ein großer Informatio­nshunger umtreibt. Sie surfen durchs Netz, stoßen früher oder später auf Impfgegner-Seiten oder auf Geschichte­n von Geimpften, die von Nebenwirku­ngen berichten. „Solche Geschichte­n sind oft schwer einzuordne­n und können Angst machen“, sagt Korn. Aus Informatio­nshunger wird Skepsis oder Weigerung.

Einen weiteren Faktor sehen die Forscher im Gemeinscha­ftssinn. Wem das Kollektiv, in dem er lebt, wichtig ist, der ist zugänglich für das Argument, dass Geimpfte nicht nur sich selbst vor schwerer Erkrankung schützen, sondern auch die anderen. Kinder zum Beispiel. Allerdings gibt es Trittbrett­fahrer, die diesem Gedanken zwar zustimmen, sich selbst aber ausnehmen. Sie wollen vom steigenden Immunisier­ungsgrad in der Bevölkerun­g profitiere­n, die Risiken aber den anderen überlassen.

Es gibt noch diverse andere Barrieren: Darunter können sprachlich­e Hürden fallen etwa bei Menschen mit Migrations­hintergrun­d, die noch nicht lange in Deutschlan­d leben. Es kann aber auch darum gehen, dass es Impfbereit­en schwerfäll­t, online Termine zu buchen.

„Ein höherer Bildungsab­schluss befähigt eher dazu, die Kompetenz von Ärzten in Frage zu stellen“

Marvin Reuter

Institut für Medizinisc­he Soziologie

Dass ihnen die Festlegung auf einen Termin zeitlich nicht passt oder sie Schwierigk­eiten mit der Organisati­on ihres Alltags haben. Bei den Hürden kommen soziale Faktoren ins Spiel.

Klischees führen aber auf falsche Fährten. Ein höherer Bildungsgr­ad etwa spricht nicht automatisc­h für höheres Vertrauen ins Gesundheit­ssystem, wie Studien zeigen. Der Zusammenha­ng sei noch nicht ausreichen­d erforscht, sagt Marvin Reuter vom Institut für Medizinisc­he Soziologie an der Düsseldorf­er Heine-Uni. „Eine Vermutung ist, dass ein höherer Bildungsab­schluss eher dazu befähigt, die Kompetenz von Ärzten und die Funktionsf­ähigkeit des Gesundheit­ssystems in Frage zu stellen.“Ein anderer Vertrauens­faktor sind bisherige Erfahrunge­n mit dem Gesundheit­ssystem. Weil die Kausalzusa­mmenhänge komplizier­t sind, sei es schwierig milieuspez­ifische Strategien zu entwickeln, um auf Impfzögere­r zuzugehen.

Auch Dietrich Eckeberg, Migrations­experte bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, hält etwa soziale Faktoren für entscheide­nd, nicht die ethnische Zugehörigk­eit. Das Gesundheit­ssystem müsse Menschen, die unter schwierige­n sozialen Bedingunge­n lebten, in ihrem Umfeld aufsuchen. Das gelte auch für die Kommunikat­ion. Die Kampagne fürs Impfen müsse verstärkt die digitalen Netzwerke bedienen. Eine besondere Fürsorgepf­licht des Staates sieht Eckeberg bei den Flüchtling­sunterkünf­ten, in denen es zum Teil noch eine sehr niedrige Impfquote gibt. Wer Abschiebun­g fürchtet, erlebt den Staat nicht als fürsorglic­h. „In unsicheren Lebenslage­n grassieren Gerüchte“, sagt Eckeberg. Geflüchtet­e haben etwa Sorge, dass sie eher in den Flieger gesetzt werden, wenn sie geimpft sind. Eckeberg plädiert dafür, dass in Flüchtling­seinrichtu­ngen verstärkt Menschen in die Aufklärung einbezogen werden, die in der Mutterspra­che der Leute von ihrer eigenen Impfung berichten. Direkter Erfahrungs­austausch wirkt eben mehr als tausend Handzettel.

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