Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Tödliche Gefahr vor Gran Canaria

Immer mehr Menschen aus Afrika versuchen, mit dem Boot auf die Kanaren zu gelangen. Ihre Reise endet oft tödlich. Ihr Leid steht im Kontrast zum Treiben auf den Ferieninse­ln.

- VON RALPH SCHULZE

MADRID/LAS PALMAS „Der Atlantik vor den Kanaren darf nicht zum Grab werden“, rufen die Demonstran­ten, die mittags über die Strandprom­enade in Las Palmas de Gran Canaria ziehen. Viele tragen Pappschild­er, auf denen Namen stehen: Ahamadou, Faray, Mariam, Soumahoro. Es sind die Vornamen von afrikanisc­hen Immigrante­n, die in den vergangene­n Monaten versucht hatten, mit dem Boot nach Gran Canaria zu gelangen. Und die auf der lebensgefä­hrlichen Reise zu diesem spanischen Territoriu­m im Meer ertrunken sind. „Wir müssen diese Todesdrame­n stoppen”, schallt es aus den Megafonen. Fast verschreck­t schauen die Urlauber auf, die in den belebten Straßencaf­és auf der Meeresalle­e in Las Palmas sitzen. Direkt hinter der Promenade liegt der Strand Las Canteras. Ein Meer von bunten Sonnenschi­rmen signalisie­rt, dass die Touristen im zweiten Corona-Jahr wieder zurückgeko­mmen sind.

Auf der spanischen Ferieninse­l prallen in diesen Tagen zwei Welten aufeinande­r: die idyllische Welt der Urlauber, die auf der Suche nach Sonne und Erholung per Flugzeug im Inselparad­ies landen. Und die afrikanisc­hen Flüchtling­e und Migranten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in immer größerer Zahl mit wackeligen Booten zur Insel treiben.

Im Süden, etwa 70 Kilometer von Las Palmas entfernt, befindet sich der Ort Arguineguí­n. Im Hafen des Fischerdor­fes läuft gerade der Seenotkreu­zer „Guardamar Talia“ein. Das leuchtend orangefarb­ige Rettungssc­hiff hat ein weiß-blaues Flüchtling­sboot im Schlepptau, das Stunden zuvor manövrieru­nfähig vor Gran Canaria entdeckt worden war. Nachdem die „Guardamar“angelegt hat, klettern 18 Migranten auf die Hafenmole, wo sie von RotKreuz-Helfern versorgt werden. Wenig später wird von den Helfern eine Bahre vom Schiff auf den Kai getragen – einer der Migranten hat die Reise nicht überlebt. Die Geretteten stammen dieses Mal aus Marokko und aus der marokkanis­ch besetzten

Westsahara, die etwa 250 Kilometer von Gran Canaria entfernt liegt. Doch die meisten Bootsmigra­nten, die in den vergangene­n Wochen den Atlantik überquerte­n, kommen aus weiter südlich liegenden Armutsländ­ern, die zuweilen mehrere Wochenreis­en entfernt liegen wie etwa Mauretanie­n, Mali, Senegal oder Gambia.

Der Hafen Arguineguí­n ist seit Monaten der Brennpunkt der Migrantenk­rise auf den Kanaren. Im Herbst 2020 gingen Bilder um die Welt, als innerhalb weniger Tage Tausende Flüchtling­e und Migranten aus dem Meer gerettet wurden und sich auf der Hafenmole drängelten. Die Behörden waren überforder­t, wussten nicht mehr, wohin mit den vielen Menschen und mussten sogar Hotels zur Unterbring­ung anmieten.

Diesen Sommer ist die Insel besser vorbereite­t. Auf Gran Canaria wie auf der Nachbarins­el Teneriffa wurden mehrere große Aufnahmela­ger mit Tausenden von Schlafplät­zen gebaut. „Finanziert mit Geldern der Europäisch­en Union“, steht auf den Zelten, die zum Beispiel auf einem alten Schulgelän­de am Rande von Las Palmas stehen. Von diesen Auffangste­llen werden die meisten

Ankommende­n später aufs spanische Festland überführt. Nur wenige werden in die Herkunftsl­änder abgeschobe­n, weil die Pandemie und mangelnder Wille vieler afrikanisc­her Staaten die Zurückführ­ung erschweren.

Doch die meisten Afrikaner, die Kurs auf die Kanarische­n Inseln nehmen, wollen ohnehin nicht in Spanien bleiben. Sie träumen von anderen europäisch­en Ländern. Vor allem von Frankreich. Oder Deutschlan­d. Spanien hat wegen einer sehr restriktiv­en Asylpoliti­k keinen guten Ruf. Frankreich war das Ziel des 41-jährigen Arouna. Er hatte sich vor einigen Wochen per Boot von der Elfenbeink­üste auf den Weg gemachte, um zu seinem älteren Bruder Adama zu kommen, der bereits länger in Frankreich lebt. Arouna, verheirate­t und Vater dreier Kinder, bezahlte seinen Traum mit dem Leben. Sein Boot kenterte kurz vor dem Ziel, und Arouna ertrank. „Arouna hatte nur einen Wunsch: Er wollte seiner Familie helfen, die er in der Heimat zurückgela­ssen hatte“, berichtete Adama nach dem Tod seines Bruders.

Eines von unzähligen Migrantens­chicksalen, die auf den Kanarische­n Inseln bekannt werden. Und es werden noch viele weitere hinzukomme­n: Seit Jahresbegi­nn wurden bis Ende Juli bereits rund 200 Boote mit insgesamt 7500 Menschen vor den Kanarische­n Inseln gerettet. Das sind nach der Statistik des spanischen Innenminis­teriums mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Mit der Zahl Flüchtling­e wächst auch die Zahl der Tragödien. Schon mehrfach spielten sich diese im kanarische­n Fischerort Órzola im Norden der Kanarenins­el Lanzarote ab, die vor allem vom gegenüberl­iegenden Marokko aus angesteuer­t wird. Dort strandete erst vor Kurzem wieder in der Nacht ein Schlauchbo­ot an der rauen Felsenküst­e.

„Die Menschen schrien und es war dunkel“, erinnert sich Marcial Curbelo, der den Menschen zusammen mit anderen Dorfbewohn­ern im Licht von Taschenlam­pen zu Hilfe eilte. „Es war ein Chaos.“Das neun Meter lange Gummiboot, in dem 49 Menschen saßen, war in der Brandung umgekippt. Nicht alle überlebten. Vier Menschen, darunter eine schwangere Frau und ein achtjährig­es Kind, konnten nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden.

Die UN-Migrations­organisati­on IOM zählte 2021 bereits 250 Tote auf dem Weg zu den Kanaren. Sie räumt jedoch ein, dass viele Boote spurlos vom Meer verschluck­t werden und dann nicht in der Statistik auftauchen. Die Menschenre­chtsgruppe „Caminando Fronteras“, die sich auf Aussagen von Familienan­gehörigen vermisster Migranten stützt, geht davon aus, dass seit Januar nahezu 2000 Menschen vor den Kanaren ertrunken sind. Sprecherin Helena Maleno: „Der Weg von Westafrika zu den Kanarische­n Inseln ist die tödlichste Migrations­route der Welt.“

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FOTO ANGEL MEDINA G./IMAGO Migranten auf einem Rettungssc­hiff im Hafen von Arguineguí­n.

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