Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Tödliche Gefahr vor Gran Canaria
Immer mehr Menschen aus Afrika versuchen, mit dem Boot auf die Kanaren zu gelangen. Ihre Reise endet oft tödlich. Ihr Leid steht im Kontrast zum Treiben auf den Ferieninseln.
MADRID/LAS PALMAS „Der Atlantik vor den Kanaren darf nicht zum Grab werden“, rufen die Demonstranten, die mittags über die Strandpromenade in Las Palmas de Gran Canaria ziehen. Viele tragen Pappschilder, auf denen Namen stehen: Ahamadou, Faray, Mariam, Soumahoro. Es sind die Vornamen von afrikanischen Immigranten, die in den vergangenen Monaten versucht hatten, mit dem Boot nach Gran Canaria zu gelangen. Und die auf der lebensgefährlichen Reise zu diesem spanischen Territorium im Meer ertrunken sind. „Wir müssen diese Todesdramen stoppen”, schallt es aus den Megafonen. Fast verschreckt schauen die Urlauber auf, die in den belebten Straßencafés auf der Meeresallee in Las Palmas sitzen. Direkt hinter der Promenade liegt der Strand Las Canteras. Ein Meer von bunten Sonnenschirmen signalisiert, dass die Touristen im zweiten Corona-Jahr wieder zurückgekommen sind.
Auf der spanischen Ferieninsel prallen in diesen Tagen zwei Welten aufeinander: die idyllische Welt der Urlauber, die auf der Suche nach Sonne und Erholung per Flugzeug im Inselparadies landen. Und die afrikanischen Flüchtlinge und Migranten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben in immer größerer Zahl mit wackeligen Booten zur Insel treiben.
Im Süden, etwa 70 Kilometer von Las Palmas entfernt, befindet sich der Ort Arguineguín. Im Hafen des Fischerdorfes läuft gerade der Seenotkreuzer „Guardamar Talia“ein. Das leuchtend orangefarbige Rettungsschiff hat ein weiß-blaues Flüchtlingsboot im Schlepptau, das Stunden zuvor manövrierunfähig vor Gran Canaria entdeckt worden war. Nachdem die „Guardamar“angelegt hat, klettern 18 Migranten auf die Hafenmole, wo sie von RotKreuz-Helfern versorgt werden. Wenig später wird von den Helfern eine Bahre vom Schiff auf den Kai getragen – einer der Migranten hat die Reise nicht überlebt. Die Geretteten stammen dieses Mal aus Marokko und aus der marokkanisch besetzten
Westsahara, die etwa 250 Kilometer von Gran Canaria entfernt liegt. Doch die meisten Bootsmigranten, die in den vergangenen Wochen den Atlantik überquerten, kommen aus weiter südlich liegenden Armutsländern, die zuweilen mehrere Wochenreisen entfernt liegen wie etwa Mauretanien, Mali, Senegal oder Gambia.
Der Hafen Arguineguín ist seit Monaten der Brennpunkt der Migrantenkrise auf den Kanaren. Im Herbst 2020 gingen Bilder um die Welt, als innerhalb weniger Tage Tausende Flüchtlinge und Migranten aus dem Meer gerettet wurden und sich auf der Hafenmole drängelten. Die Behörden waren überfordert, wussten nicht mehr, wohin mit den vielen Menschen und mussten sogar Hotels zur Unterbringung anmieten.
Diesen Sommer ist die Insel besser vorbereitet. Auf Gran Canaria wie auf der Nachbarinsel Teneriffa wurden mehrere große Aufnahmelager mit Tausenden von Schlafplätzen gebaut. „Finanziert mit Geldern der Europäischen Union“, steht auf den Zelten, die zum Beispiel auf einem alten Schulgelände am Rande von Las Palmas stehen. Von diesen Auffangstellen werden die meisten
Ankommenden später aufs spanische Festland überführt. Nur wenige werden in die Herkunftsländer abgeschoben, weil die Pandemie und mangelnder Wille vieler afrikanischer Staaten die Zurückführung erschweren.
Doch die meisten Afrikaner, die Kurs auf die Kanarischen Inseln nehmen, wollen ohnehin nicht in Spanien bleiben. Sie träumen von anderen europäischen Ländern. Vor allem von Frankreich. Oder Deutschland. Spanien hat wegen einer sehr restriktiven Asylpolitik keinen guten Ruf. Frankreich war das Ziel des 41-jährigen Arouna. Er hatte sich vor einigen Wochen per Boot von der Elfenbeinküste auf den Weg gemachte, um zu seinem älteren Bruder Adama zu kommen, der bereits länger in Frankreich lebt. Arouna, verheiratet und Vater dreier Kinder, bezahlte seinen Traum mit dem Leben. Sein Boot kenterte kurz vor dem Ziel, und Arouna ertrank. „Arouna hatte nur einen Wunsch: Er wollte seiner Familie helfen, die er in der Heimat zurückgelassen hatte“, berichtete Adama nach dem Tod seines Bruders.
Eines von unzähligen Migrantenschicksalen, die auf den Kanarischen Inseln bekannt werden. Und es werden noch viele weitere hinzukommen: Seit Jahresbeginn wurden bis Ende Juli bereits rund 200 Boote mit insgesamt 7500 Menschen vor den Kanarischen Inseln gerettet. Das sind nach der Statistik des spanischen Innenministeriums mehr als doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Mit der Zahl Flüchtlinge wächst auch die Zahl der Tragödien. Schon mehrfach spielten sich diese im kanarischen Fischerort Órzola im Norden der Kanareninsel Lanzarote ab, die vor allem vom gegenüberliegenden Marokko aus angesteuert wird. Dort strandete erst vor Kurzem wieder in der Nacht ein Schlauchboot an der rauen Felsenküste.
„Die Menschen schrien und es war dunkel“, erinnert sich Marcial Curbelo, der den Menschen zusammen mit anderen Dorfbewohnern im Licht von Taschenlampen zu Hilfe eilte. „Es war ein Chaos.“Das neun Meter lange Gummiboot, in dem 49 Menschen saßen, war in der Brandung umgekippt. Nicht alle überlebten. Vier Menschen, darunter eine schwangere Frau und ein achtjähriges Kind, konnten nur noch tot aus dem Wasser gezogen werden.
Die UN-Migrationsorganisation IOM zählte 2021 bereits 250 Tote auf dem Weg zu den Kanaren. Sie räumt jedoch ein, dass viele Boote spurlos vom Meer verschluckt werden und dann nicht in der Statistik auftauchen. Die Menschenrechtsgruppe „Caminando Fronteras“, die sich auf Aussagen von Familienangehörigen vermisster Migranten stützt, geht davon aus, dass seit Januar nahezu 2000 Menschen vor den Kanaren ertrunken sind. Sprecherin Helena Maleno: „Der Weg von Westafrika zu den Kanarischen Inseln ist die tödlichste Migrationsroute der Welt.“