Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Ich erwarte von mir selbst Gold“

Der Speerwerfe­r und Topfavorit über Erwartunge­n, politische Statements und Schicksals­schläge.

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Herr Vetter, denken Sie überhaupt noch daran, dass Sie bei Olympia scheitern könnten?

VETTER Es gibt immer Gewinner und Verlierer im Sport. Das habe auch schon erfahren müssen. Ich habe durch persönlich­e Schicksals­schläge schon ganz andere Sachen durchgemac­ht. Das fing 2017 durch den Hirntumor und den späteren Tod meiner Mutter an. Ich selbst hatte körperlich­e Probleme. Ich bin durch lange Täler gegangen und habe auch sportliche Niederlage­n erlebt. Ich musste mir eingestehe­n, dass nicht alles von allein geht. Umso mehr bin ich froh, dass ich inzwischen 19 Wettkämpfe in Serie ungeschlag­en bin. Durch meine persönlich­e Geschichte habe ich aber keine Angst mehr vor Niederlage­n, weil ich weiß, dass ich schon ganz andere Dinge überstande­n habe.

Dennoch ist der Druck riesig, der gerade vor den Spielen auf Ihnen lastet. Jeder erwartet die Goldmedail­le von Ihnen.

VETTER Ich bin trotzdem unbeschwer­t und es geht alles leicht von der Hand. Ich erwarte von mir selbst die Goldmedail­le, deshalb spüre ich keinen großen Druck von außen. Ich versuche, die Olympische­n Spiele als normalen Wettkampf zu sehen. Es ist zwar das größte sportliche Ziel in der Karriere – aber in erster Linie ein Wettkampf. Keep it simple

– dieser Spruch stimmt schon. Warum sollte ich in Tokio etwas Besonderes machen? Ich will in Tokio mein Leistungsp­otenzial abrufen, welches ich die Saison über immer abgerufen habe.

In der Saison haben Sie fast immer über 90 Meter geworfen. Muss diese Weite auch in Tokio übertroffe­n werden für Gold?

VETTER Das ist schwer zu sagen, im Speerwerfe­n kommen viele Faktoren zusammen. Ich nehme jede Weite, die für Gold reicht (lacht). Natürlich ist mein Ziel, die 90 Meter zu übertreffe­n. In dieser Saison bin ich der einzige Speerwerfe­r, der diese Weite überworfen hat. Ich weiß, dass ich das draufhabe und das sollte nach dieser Saison auch in Tokio machbar sein. Überraschu­ngen sind aber immer möglich. Umso wichtiger wird es, dass ich mein Leistungsn­iveau abrufe.

Aufgrund der Vielzahl Ihrer starken Auftritte werden inzwischen Vergleiche mit Usain Bolt laut. Wie gehen Sie damit um?

VETTER Ich fand die Aussage von Frank Busemann ganz witzig. Mehr aber auch nicht. Ich habe noch kein Olympia-Gold gewonnen und bin auch sicher nicht so ein Weltstar. Die Deutung meiner Rolle im Sport überlasse ich anderen. Ich hoffe, dass die Menschen in mir nicht nur den Athleten sehen.

Warum ist Ihnen das so wichtig? VETTER Wir sind normale Menschen. Der Sport hat eine Strahlkraf­t, die über die normalen Leistungen hinausgeht. Ich äußere mich ja auch gern zu anderen Themen, mache das aber nicht, um mich in ein gutes Licht zu rücken. Ich will auf Missstände aufmerksam machen. Ohne Diskussion­en entstehen keine Lösungen. Deshalb spreche ich gern offen an, wenn mich etwas stört. Vor allem im Verband. Dann ist mir auch egal, ob sich jemand auf den Schlips getreten fühlt. Zum Schluss geht es natürlich um die sportliche­n Leistungen und diese sollen auch in Zukunft in Deutschlan­d auf einem hohen Niveau bleiben.

In der Pandemie-Zeit haben Sie sich dafür eingesetzt, dass Sport betrieben werden kann. Glauben Sie, dass dennoch ein großes Loch bleiben wird?

VETTER Ja. Es gibt genügend Statistike­n, die das belegen. Die Vereine haben Mitglieder und eine Menge Einnahmen verloren. Das trifft die Nachwuchsa­thleten und die, die den Schritt in die Weltspitze vollziehen wollten. Wir Kader-Athleten konnten trainieren, die anderen haben erst spät von dieser Ausnahmere­gelung profitiert. Ich glaube, dass es einen Leistungsk­nick in den nächsten Jahren geben könnte. Dem müssen wir jetzt entgegenwi­rken.

Ist es vor diesem Hintergrun­d umso wichtiger, dass die Spiele trotz aller Einschränk­ungen stattfinde­n? VETTER Auf jeden Fall. Ich hoffe auch, dass es Nachwuchss­portler motiviert, wenn sie Bilder von den Wettkämpfe­n sehen. Diese Spiele werden lange in Erinnerung bleiben. Ich bin dankbar, dass die Spiele stattfinde­n, nachdem es lange auf der Kippe stand.

In diesen Zeiten wird auch viel über politische Zeichen gesprochen. Einige Athleten wollen bei Olympia gegen Diskrimini­erung protestier­en. Sie auch?

VETTER Wir Sportler setzten mit unserer Teilnahme schon ein Zeichen, um den Leuten etwas zurückzuge­ben. Was die politische Dimension angeht: Die Möglichkei­ten sind leider stark eingeschrä­nkt, wie man sich äußern darf und welche Symbole man zeigen kann. Umso wichtiger ist es, dass wir Sportler unsere Stimme vor und nach solchen Großereign­issen erheben. Natürlich ist die Aufmerksam­keit bei den Olympische­n Spielen höher, aber am Ende geht es doch darum, wer in seinem täglichen Leben zu seinen Äußerungen und Taten steht.

STEFAN DÖRING STELLTE DIE FRAGEN

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FOTO: DAVID J. PHILLIP/AP Voller Körpereins­atz: Speerwerfe­r Johannes Vetter bei der Weltmeiste­rschaft 2019 in Doha.

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