Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Wortkünstlerin will Haltung beziehen
Anna Lisa Tuczek steht pro Woche auf drei bis fünf Poetry-Slam-Bühnen. Jetzt tritt sie bei den NRW-Meisterschaften an.
WERMELSKIRCHEN Bis auf ein Mikrofon ist die Bühne leer. Ein Schweinwerfer sorgt für einen hellen Fleck auf dem dunklen Boden. Das Publikum applaudiert, nachdem die beiden Moderatoren die nächste Sprachkünstlerin angekündigt haben: Anna Lisa Tuczek. Als die kleine, energiegeladene Frau die Bühne betritt, wird es leise im Publikum. „Ich habe zwei Texte“, sagt sie, „und ich wusste nicht, welchen ich lesen soll.“Also bittet Anna Lisa Tuczek das Publikum zu entscheiden: „Sport oder Brüste?“Die Entscheidung in dem kleinen Wuppertaler Theater fällt an diesem Abend eindeutig. Brüste. Also zieht die 22-Jährige einen Zettel aus der linken Tasche ihres Rocks, stemmt einen Arm in die Hüfte und legt los. Der weiße Zettel in ihrer Hand bebt, sie gestikuliert. Sie flüstert, schreit und rappt. Alles auf einmal. Später wird sie sagen, dass sie selbst in diesen Momenten, in denen sie völlig mit ihrem Text beschäftigt ist, trotzdem ein Auge und ein Ohr für das Publikum hat. Dass sie den Menschen bewusst ins Gesicht blickt. „Ein Poetry Slam ist kein Monolog“, wird sie sagen, „sondern ein Dialog mit dem
„Ich habe zwei Texte, und ich wusste nicht, welchen ich lesen soll — Sport oder Brüste?“
Anna Lisa Tuczek
Publikum.“Und Anna Lisa Tuczek muss es wissen. Denn die 22-Jährige Wermelskirchenerin hat sich inzwischen einen Namen gemacht in der Branche, die in den vergangenen Jahren ein unglaubliches Wachstum erlebt hat, die sich mit Sprache, Wortkunst und irgendwie auch mit Theater beschäftigt. Poetry Slams sind regelmäßig ausverkauft – von Wuppertal bis nach Berlin, vom Saarland bis an die See. Und Anna Lisa Tuczek ist mittendrin. Auf drei bis fünf Bühnen steht sie in der Woche. Vergangenen Montag las sie in Baden-Württemberg, dann in Münster und Wuppertal, am Samstag war sie dann beim Zeilensprung in Wermelskirchen dabei.
„Hier ist meine Heimat, hier hat alles angefangen“, erzählt sie, kurz bevor sie am Samstag als Moderatorin auf die Bühne in der Katt zurückkehrt. Dann erzählt sie von ihrer Schulzeit auf der Katholischen Grundschule und dem Gymnasium. Sie erzählt von ihrer Rolle als Pater Lorenzo, die sie mit zwölf bei einem Theaterprojekt in der Katt übernahm, über die Kinderstadt und über ihre ersten, unsicheren Versuche beim Zeilensprung in der Katt. „Ich durfte damals meine ersten Texte ohne Wertung ausprobieren“, erzählt sie, „da war ich gerade 14.“Aber schon damals gefiel es ihr nicht, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Ich sage gerne, was ich denke“, erklärt sie. Das sei als Jugendliche nicht immer leicht gewesen. „Natürlich gab es Gegenwind“, sagt sie. Aber Anna Lisa Tuczek sprach trotzdem. „Ich glaube, das hat mir mein Großvater mitgegeben: Stehe für die Dinge ein, an die du glaubst.“Und so versteht sie auch ihre Auftritte auf der Bühne: Es geht ihr um die großen Themen. Um Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie. „Aber immer auch persönlich“, sagt sie. Anna Lisa Tuczek erzählt von sich selbst – wenn sie dichtet, zaubert und sich ihre energiegeladene Stimme gelegentlich überschlagen will. Sie erzählt von ihrem Großvater, der am Ende seines Lebens an Demenz litt, sie erzählt vom Pflegesystem, von Erinnerungen an Apfelkompott und von ihrer Trauer bei seinem Abschied. Aber sie erzählt eben auch von Brüsten und von Menstruation, davon, wie Frauen immer noch belacht, benachteiligt und in Schubladen gesteckt werden. Im Moment arbeitet sie an Texten zu Depression und Kindesmisshandlung. „Ich will Tabus brechen“, gibt sie zu. Aber nicht zum Selbstzweck. Auch nicht, um andere von ihrer Meinung zu überzeugen. „Die Bühne ist mein Sprachrohr, und ich möchte dem Publikum Perspektiven eröffnen und einen Gedankenanstoß geben“, sagt die 22-Jährige. Denn sie ist sicher: Nur, wenn wir auch die Perspektiven des anderen kennen, können wir eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Sie selbst macht diese Erfahrung immer wieder – im Alltag, erst im Studium, inzwischen als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. „In der Begegnung mit Geflüchteten bin ich nochmal daran erinnert worden: Wir müssen immer wieder neu Haltung beziehen“, sagt Anna Lisa Tuczek, die inzwischen in Bonn lebt. Und dann ist das Publikum gefragt:
„Heute stürme ich auf die Bühne, will etwas sagen, dann ist es mir fast egal, wie es ausgeht“
Anna Lisa Tuczek
Großer Applaus, mittlerer Applaus oder eher ein laues Applaudieren. Beim Poetry Slam entscheiden die Zuschauer, wer als Gewinner von der Bühne geht, wer den besten eigenen Text vorgetragen hat. Klar, das sei am Anfang nicht immer einfach gewesen. Mal funktionierte ein Text gut, mal weniger gut. „Aber heute stürme ich auf die Bühne, will etwas sagen, und dann ist es mir fast egal, wie es ausgeht“, sagt sie.
Oft geht es gut aus – wie zum Beispiel beim Poetry Slam neulich in Rheinbach. Dort ging sie als Gewinnerin von der Bühne und nahm gleichzeitig die Qualifikation für die Landesmeisterschaften in NRW mit nach Hause. Sie freut sich auf den großen Auftritt im Oktober. „Denn vor allem macht mir die Teilnahme an Poetry Slams Spaß“, sagt sie, „natürlich geht es auch um Unterhaltung.“Während der Corona-Pandemie habe sie gemerkt, wie sehr es ihr fehlte, auf Bühnen zu stehen. „Jetzt sind wir endlich zurück“, stellt sie fest. Und dann muss sie los – zu ihrem ersten Auftritt als Moderatorin auf ihrer Heimatbühne im Bistro der Katt.