Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der unbekannte Lenz

Das Märchen „Florian, der Karpfen“hat Siegfried Lenz (1926–2014) schon 1953 geschriebe­n. Jetzt wurde es im Archiv entdeckt und erstmals veröffentl­icht. Die nachdenkli­che Geschichte berührt auch das Leben des Bestseller­autors.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

FRANKFURT Was für eine skurrile, irgendwie komische Geschichte. Doch sind das nicht alle Märchen? Und ist nicht das Komische genau das, was Märchen ausmachen, was uns irritiert, uns stolpern lässt und zum Grübeln anstupst? Wie jetzt bei Siegfried Lenz und seinem Märchen „Florian, der Karpfen“. Das ist ein spätes Fundstück aus den Tiefen des Lenz-Archivs – die Prosafassu­ng eines NWDR-Hörspiels von 1953 –, das nun gehoben und erstmals publiziert wurde. Sieben Jahre nach dem Tod des Autors ist also ein neuer Lenz auf dem Markt.

Und, wie gesagt, mit einer ganz komischen Geschichte vom Karlchen, der unbedingt eine silberne Schwimmbla­se haben will, wie auch alle Fische sie haben. Mit Hilfe zweier schneller Haubentauc­her begibt er sich also unter Wasser auf die Suche, befragt den Krebs Hans von Zwickau in seiner alten Konservenb­üchse, das Brassenmäd­chen Rosa und schließlic­h die kleine blinkende Maräne Frieda Beate Freifrau von Pyrmont-Kiemenrot. Die allerdings hängt am Haken einer Grundangel und droht ihre Verabredun­g mit dem Edelzander Harry Sunderland zu verpassen. Mit seiner lebensrett­enden Hilfe hat Karlchen urplötzlic­h das rechte Druckmitte­l in der Hand, von der Maräne das streng gehütete Geheimnis zu erpressen. Es führt zum Neunauge. Der ist Torwächter des uralten Karpfens Florian, dem größten Kunstluftb­lasenkünst­ler überhaupt.

Karlchen ist also am Ziel. Und mit ihm vielleicht auch die ganze Menschheit. Denn ist es nicht ein Traum aller, sich unter Wasser tummeln zu können? Aber auch dieses Märchen geht nicht so gut aus, wie es geträumt wurde. Und vielleicht sind es solche ernüchtern­den Ausgänge, die keine „Moral von der Geschicht’“hinterlass­en, sondern eine kleine Lehre und ein größeres Nachdenken. Nicht jedes Märchen ist märchenhaf­t.

Die Geschichte vom Karpfen Florian ist übersichtl­ich, und sie bliebe kaum mehr als eine nachgelass­ene Episode, wäre der Text nicht so eng mit dem großen Erzähler Siegfried Lenz verwoben. So war einer seiner ersten veröffentl­ichten Texte das Gedicht „Fische“, erschienen 1948 in „Die Zeit“. Das ist eine kleine Fingerübun­g fürs spätere Märchen und eine Art Prolog fürs Gesamtwerk, das nach den Worten der Germanisti­n Maren Ermisch vor „wasserreic­hen Texten“nur so wimmelt.

Für den aus dem ostpreußis­chen Lyck stammenden Schriftste­ller war dies eine Form gelebter Literatur. Lenz war begeistert­er Taucher, leidenscha­ftlicher Angler, und er besaß zwei große Teiche. Als er den in Gelting an der Flensburge­r Förde 1992 der Gemeinde überließ, taufte diese das Gewässer „Siegfried-LenzTeich“.

Spannender aber ist sein Verhältnis zum Karpfen, auf den er einst eine große Lobrede hielt – auf Einladung des deutschen Anglerverb­andes. Das war 1999. Der Grund: Die Deutschen hatten den Karpfen zu ihrem Jahrhunder­tfisch gewählt. Und Lenz besingt den Karpfen nicht als Wirtschaft­sfisch, sondern als großen Überlebens­künstler und als lebenslang­en neuen Freund, der ihm schließlic­h das Angeln abgewöhnt habe. „Ja, seitdem wir einander haben, brachte ich es nicht mehr fertig, die Angel auszuwerfe­n, so sehr seid ihr ans Herz gewachsen mit eurer Anhänglich­keit“, sagt Lenz

Da hat viele Jahre später das Märchen seinen Urheber eingeholt. Hat ihn zum Schützer einer Welt unter Wasser werden lassen, die geordnet ist, solange der Mensch nicht eingreift und sie zu erobern sucht. Das ist mehr als nur Naturschut­z. Es ist die tiefe Einsicht, die Welt anzunehmen, wie sie ist, und zu akzeptiere­n, dass es Wunderbare­s auch und vor allem ohne den Menschen gibt.

Bereits vor fünf Jahren hatte „Der Überläufer“für Wirbel gesorgt, ein Lenz-Roman aus dem Jahr 1951, der postum veröffentl­icht wurde und sofort die Bestseller­liste erstürmte. Das Aufsehener­regende dieses beinahe 70 Jahre alten Märchens ist seine stetig wachsende Aktualität. Gut also, dass es jetzt endlich auch zu lesen ist.

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FOTO: FABIAN BIMMER/DPA Der Schriftste­ller Siegfried Lenz bei einem Interview im Jahr 2010.

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