Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Keine Angst vor Rot-Grün-Rot“
Der DGB-Chef über einen möglichen Bundeskanzler Olaf Scholz, lange Homeoffice-Tage und warum er Mini-Jobs abschaffen will.
Herr Hoffmann, die Lokführergewerkschaft GDL legt mit ihrem fünftägigen Streik das ganze Land lahm. Warum machen die das? HOFFMANN Bei Löhnen und Arbeitsbedingungen liegen GDL und Bahn gar nicht so weit auseinander. Im Kern geht es GDL-Chef Weselsky also darum, seine Gewerkschaft – die zum Deutschen Beamtenbund gehört – zu erhalten und ihren Einflussbereich zu vergrößern, um auf diese Weise mehr Mitglieder zu gewinnen. Bisher ist die GDL nur in 16 der insgesamt über 300 Bahn-Betriebe in der Lage, Tarifverträge auszuhandeln, für alle anderen ist die größere DGB-Verkehrsgewerkschaft EVG zuständig. Bei Herrn Weselsky und der GDL geht es ums pure Überleben.
Ist daran nicht vor allem das Tarifeinheitsgesetz schuld?
HOFFMANN Die Bahn hat die Lokführergewerkschaft GDL in den Betrieben, in denen sie tariffähig ist, durchaus anerkannt. Was wir kritisch sehen, ist, dass hier eine Berufsgruppe wie die Lokführer ihre partikularen Interessen gegen das Gesamtinteresse aller anderen Bahnbeschäftigten durchsetzt. Die Beschäftigtengruppen in einem Unternehmen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Obwohl die Differenzen zwischen der Gewerkschaft und der Bahn nicht sehr groß sind, weigert sich Herr Weselsky, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das halte ich für falsch.
Das neue Angebot der Bahn unterscheidet sich kaum noch von den Forderungen der GDL. Inwiefern diskreditiert die GDL mit der Fortsetzung ihres Streiks das Ansehen der Gewerkschaften insgesamt? HOFFMANN Der aktuelle Streik schadet zunächst vor allem dem Ansehen der GDL. Den Rückhalt für die DGB-Gewerkschaften sehe ich nicht gefährdet. Sie setzen sich für alle Beschäftigtengruppen ein. Das findet große Anerkennung und Zustimmung bei den Menschen.
In drei Wochen wird gewählt. Eine Jamaika-Regierung unter Unionsführung oder die Ampel unter SPDFührung – was hätten Sie lieber? HOFFMANN Anders als früher sehen wir Gewerkschaften dieses Mal in den Wahlprogrammen Übereinstimmungen und Schnittmengen mit allen demokratischen Parteien – selbst mit der FDP. Das ist schon erstaunlich. Keine Partei stellt Arbeitnehmerrechte infrage, keine will – zumindest in ihren Wahlprogrammen
– Arbeitnehmerrechte schleifen. Alle wollen deutlich mehr in Infrastruktur, Bildung und Klimaschutz investieren. Absolut kritisch sehen wir natürlich die Steuerentlastungspläne der FDP und die Forderung von Teilen der Union, das Rentenalter zu erhöhen.
Viele Unternehmen fürchten einen Linksruck mit Rot-Grün-Rot. Auch der DGB müsste doch ein Interesse daran haben, den Wirtschaftsstandort nicht mit mehr Sozialausgaben zu belasten.
HOFFMANN Wenn Unternehmen vor Rot-Grün-Rot Angst haben, kann ich das nicht nachvollziehen. Das ist in einer Demokratie nun mal so, dass grundsätzlich alle demokratischen Parteien eine Koalition schmieden können, inklusive der Linkspartei. Die Demokratie stärke ich doch, indem ich die Menschen nicht mit Unkenrufen verunsichere, sondern ihnen glaubhaft Zukunftswege aufzeige, wie der Klimawandel, die Dekarbonisierung der Wirtschaft, der demografische Wandel und die Digitalisierung gleichzeitig bewältigt werden können.
Union und FDP wollen statt des Acht-Stunden-Tages nur noch die in der EU vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von maximal 48 Stunden vorschreiben. Gehen Sie mit? HOFFMANN Das ist mit uns nicht machbar. Sollte eine neue Regierung es wagen, die Axt an den AchtStunden-Tag zu legen, macht sie sich die Gewerkschaften zum Gegner. Überlange Arbeitszeiten führen zu gesundheitlichen Belastungen und mehr Fehlzeiten, das sagen alle wissenschaftlichen Studien. Unsere Tarifverträge sind bei der Arbeitszeit schon extrem flexibel. Sie ermöglichen auch passgenaue Lösungen für die Arbeitgeber und geben den Beschäftigten zugleich mehr Zeitsouveränität.
Hintergrund ist ja der Siegeszug des Homeoffice nach der Corona-Krise, das zur Entgrenzung der Arbeitszeiten führt. Welche gesetzlichen Regelungen fordern Sie hier? HOFFMANN Der Acht-Stunden-Tag muss selbstverständlich auch für Beschäftigte im Homeoffice gelten. Auch alle anderen Arbeitsbedingungen zuhause müssen gesetzlich geregelt werden. Wir sind grundsätzlich für einen Rechtsanspruch auf Homeoffice: Jeder Arbeitnehmer soll ein Recht darauf haben, von Zuhause aus arbeiten zu können, wenn es die Art der Tätigkeit zulässt. Was wir aber nicht wollen, ist, dass Beschäftigte umgekehrt keinen Arbeitsplatz mehr im Betrieb vorfinden, weil der Arbeitgeber die Flächen einfach einspart. Wir wollen keine Reise nach Jerusalem im
Betrieb. Und auch für Beschäftigte, die kein Homeoffice machen können, muss es Angebote geben, die zu mehr Arbeitszeitsouveränität führen. Alles das gehört nach der Wahl in ein Gesetzespaket zur Regelung des mobilen Arbeitens.
Union und FDP wollen die MiniJob-Grenze auf 550 oder 600 Euro anheben. Wie bewerten Sie das? HOFFMANN Mini-Jobs halte ich ohnehin für einen Skandal. Sie müssen dringend reformiert werden, denn sie verhindern reguläre Beschäftigung und führen zu einer unzureichenden sozialen Absicherung, vor allem von Frauen. Wenn ich die Mini-Job-Grenze anhebe, wäre das ein Anreiz für Arbeitgeber, Vollzeitjobs in mehrere Mini-Jobs aufzuspalten, um sich die Sozialbeiträge zu sparen. Im Ergebnis hätten wir mehr Mini-Jobs statt weniger. Das will ich nicht.
Warum sind Sie für einen Mindestlohn von zwölf Euro? Das ist doch ein Zeichen Ihrer Machtlosigkeit... HOFFMANN Nein. Der Mindestlohn ist ein Zeichen der Tarifflucht der Unternehmen, die in großer Zahl Tarifverträge unterlaufen wollen. Der Einstieg 2015 in den Mindestlohn war mit 8,50 Euro einfach zu niedrig. Wir brauchen einen Mindestlohn, der auch in der Rente vor Armut schützt und deshalb mindestens zwölf Euro pro Stunde entspricht. Die Mindestlohnkommission aus Gewerkschaften und Arbeitgebern konnte sich bisher nicht auf einen armutsfesten Mindestlohn einigen. Deshalb fordern wir, dass die nächste Regierung den Mindestlohn in einem einmaligen gesetzlichen Akt auf zwölf Euro anhebt. Danach soll wieder die Kommission die Hoheit über den Mindestlohn haben.
Wenn wir alles zusammenfassen, dann wäre Ihnen ein Kanzler Scholz aber doch lieber? HOFFMANN Warten Sie es ab, vielleicht wird es ja doch noch Frau Baerbock. Nein, im Ernst, der DGB gibt keine Wahlempfehlung ab. Als Einheitsgewerkschaft haben wir stabile Gesprächsgrundlagen mit allen demokratischen Parteien.
BIRGIT MARSCHALL FÜHRTE DAS GESPRÄCH.