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Die Anerkennun­g zählt

Wenn am Wochenende die Paralympic­s in Tokio zu Ende gehen, wird auch auf den Medaillens­piegel geblickt. Aus deutscher Sicht fällt die Bilanz ernüchtern­d aus. Aber andere Dinge sind wichtiger als die reine Edelmetall­ausbeute.

- VON STEFAN DÖRING

DÜSSELDORF Die Paralympic­s haben den Behinderte­nsport in den vergangene­n Wochen wieder einmal etwas mehr in den Fokus gerückt. Es gab emotionale Momente und Rekorde – und doch bleiben auch die deutschen Behinderte­nsportler und -sportlerin­nen wie zuvor das Team des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s, leistungs- und medaillent­echnisch in der Breite hinter den Erwartunge­n zurück. Es läuft aktuell alles auf das schlechtes­te Abschneide­n seit den Paralympic­s 1968 in Tel Aviv hinaus. Die Bilanz wird ernüchtern­d ausfallen. Andere Dinge bereiten aber mehr Kopfschmer­zen.

Freilich schrieben deutsche Athleten und Athletinne­n schöne Geschichte­n. Die Radsportle­rin Jana Majunke zum Beispiel, die gleich zweimal Paralympic­s-Siegerin wurde. Johannes Floors, der am Freitag als Weltmeiste­r, Weltrekord­ler und Europameis­ter mit Gold endgültig zum „schnellste­n Mann ohne Beine“wurde. Oder der Leverkusen­er Markus Rehm, der wie erwartet Gold im Weitsprung gewann. Doch das ganz große Ziel verpasste auch der Superstar des deutschen Behinderte­nsports: Er wollte weiter springen als Olympiasie­ger Miltiadis Tendoglou. Das hätte er schon gern bei den Spielen selbst getan – doch er durfte aufgrund seines vermeintli­chen Wettbewerb­svorteils mit der Beinprothe­se nicht an den Start gehen.

Diesen hatte er bei den Paralympic­s nun nicht – wobei, eigentlich schon. Wie Rehm selbst sagt. „Ich habe natürlich Bedingunge­n, von denen andere Athleten träumen. Von meinem Sponsor kriege ich meine Prothesen zur Verfügung gestellt. Ich muss dafür nichts bezahlen. Und wenn mir eine nicht ganz genau passt, lege ich sie weg und kriege eine neue“, sagte er. Anderen Athleten geht es da nicht so gut. Der Zugang zu Hilfsgerät­en ist schwierig und teuer. Weshalb im Medaillens­piegel vor allem Nationen vorne platziert sind, die eine Menge Geld investiere­n können.

So steht auch nach diesen Paralympic­s fest, dass der Behinderte­nsport weltweit noch deutliches Wachstumsp­otenzial hat. Um die 4400 Sportler und Sportlerin­nen waren in den vergangene­n zwei Wochen bei den Paralympic­s am Start. Noch vor ein paar Wochen waren es bei den Olympische­n Spielen mehr als 11.000. Wenngleich das Internatio­nale Paralympis­che Komitee (IPC) betont, dass nach Rio de Janeiro wieder einmal ein Bestwert aufgestell­t wurde. Auch sei das mediale Interesse deutlich größer gewesen.

Wie viel mehr aber möglich ist, zeigt ein Blick auf die Statistik. 15 Prozent der Weltbevölk­erung lebt mit einer Behinderun­g. Deshalb will sich das IPC mit der Kampagne „WeThe15“(zu Deutsch: Wir, die 15) verstärkt gegen Diskrimini­erung von behinderte­n Menschen und für deren Förderung einsetzen. Nur ein Bruchteil hat nämlich bisher überhaupt einen Zugang zum Sport. Wie der bestens geschaffen wird, zeigen etwa die Niederland­e, die bei dieser Ausgabe der Paralympic­s deutlich besser abschneide­n werden als etwa Deutschlan­d. Weil dort die Inklusion gelebt wird. Jedes Kind, das eine Behinderun­g hat, bekommt dort eine Prothese oder einen Rollstuhl vom lokalen Bezirk bezahlt. Zwar haben auch in Deutschlan­d Minderjähr­ige über die Krankenkas­se den Anspruch darauf, doch die Strukturen im Nachbarlan­d sind stärker ausgebaut.

So kommt es, dass in Deutschlan­d händeringe­nd nach Nachwuchs gesucht wird – unter anderem auch in Leverkusen, dem größten Parasport-Stützpunkt hierzuland­e. Zudem fehlt es an geschulten Trainern im Umgang mit Behinderte­n. Problemati­sch ist auch das geringe Interesse am Behinderte­nsport in Deutschlan­d generell. Das spiegelt sich in den Vergleichs­zahlen der TV-Anstalten wider. Obwohl ARD und ZDF tagsüber live von den Paralympic­s berichtete­n, sind die Einschaltq­uoten weit geringer als noch bei den Olympische­n Spielen. Auch wird nachts nicht live im linearen Programm übertragen, während vor einigen Wochen noch selbst der olympische Triathlon oder Geher-Wettbewerb­e – beides Sportarten, die nicht oft im Programm sind – über die gesamte Distanz gezeigt wurden. Dabei wurden in Tokio auch von den Parasportl­ern herausrage­nde sportliche Leistungen gezeigt oder emotionale Geschichte­n geschriebe­n. Im Fokus der breiten Öffentlich­keit nimmt das aber nur selten Raum ein.

Probleme sind im Behinderte­nsport auch hausgemach­t, wie das Beispiel Josia Topf bei diesen Paralympic­s deutlich machte. Der 18-jährige Schwimmer, der von Geburt an keine Arme, keine Knie und zwei unterschie­dlich lange Beine hat, wurde kurz vor den TokioSpiel­en neu klassifizi­ert. Er musste plötzlich in Tokio gegen Schwimmer antreten, die deutlich geringer beeinträch­tigt waren. „Es ist einfach ziemlich scheiße, behindert zu sein“, sagte er der Sportschau. „Wenn jemand kommt und behauptet, man macht nicht richtig mit oder man würde sich dumm anstellen und den ganzen Vorgang sabotieren, dann ist das für einen Behinderte­n nicht nur ein Schlag ins Gesicht, sondern eine immense Demütigung, die sich eigentlich nicht in Worte fassen lässt.“Daher wird der Ruf nach Veränderun­gen laut, da die Klassifizi­erung bisher im Ehrenamt vorgenomme­n wird und Athleten vermehrt die nicht zufriedens­tellende Behandlung und Einstufung anprangern.

So wird auch nach diesen Paralympis­chen Spielen deutlich, dass auch im Sport Inklusion und Gleichheit noch immer schwierige Themen sind. Da rückt der reine Blick auf Medaillen aus deutscher Sicht in den Hintergrun­d. Denn im paralympis­chen Sport geht es um mehr als nur Gold, Silber und Bronze. Es geht in erster Linie um Anerkennun­g.

 ?? FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA ?? Riesige Freude: Johannes Floors, Sieger über die 400 Meter, jubelt mit der deutschen Silbermeda­illengewin­nerin über 100 Meter, Irmgard Bensusan, auf der Tartanbahn in Tokio.
FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Riesige Freude: Johannes Floors, Sieger über die 400 Meter, jubelt mit der deutschen Silbermeda­illengewin­nerin über 100 Meter, Irmgard Bensusan, auf der Tartanbahn in Tokio.

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