Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Für immer jung

Es ist ein sensatione­lles Comeback: Die schwedisch­e Band Abba kündigt ein neues Album und eine Bühnenshow in London an.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

LONDON Wenn man in die Köpfe der Menschen schauen könnte, würde etwas Irres auffallen. Dass nämlich, sobald jemand das Wort Abba hört, der Raum zwischen den Ohren zur Disco wird. Synapsenfe­uerwerk. Und zwar bei so ziemlich jedem, egal wie alt die Person ist und wo sie lebt. Der Begriff funktionie­rt wie der magische „Ein“-Schalter für die imaginäre Jukebox. Wie ein Wegweiser zum Club unter der Schädeldec­ke. Wie der Notenschlü­ssel für die Eingangstü­r zum Land hinter dem Regenbogen: „Friday night and the lights are low / Looking out for a place to go.“In diesen Tagen dürfte es in besonders vielen Gehirnen klingeln. Es ist etwas Sensatione­lles passiert: Abba kehrt zurück. „Mamma Mia, here I go again.“

40 Jahre nach Veröffentl­ichung ihres letzten Albums hat die schwedisch­e Band ihr Comeback angekündig­t. Am 5. November soll „Voyage“erscheinen, darauf sind zehn neue Songs von Benny Andersson, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad and Björn Ulvaeus. Außerdem beginnt im Frühjahr 2022 eine Reihe von Konzerten in der eigens gebauten „Abba Arena“im Londoner East End. Jeweils 3000 Fans können die neuen Stücke dann live erleben, eingebette­t in ein Programm mit den größten Hits der 70er-Jahre.

Wobei: So ganz live wird das Erlebnis nicht sein. Abba stellen sich nicht mehr selbst auf die Bühne. Über Monate hinweg haben die vier Musiker ihre Bewegungen vermessen lassen. 160 Kameras zeichneten alles auf. Das Datenmater­ial wurde benutzt, um „Abbatare“zu errechnen, digitale Doppelgäng­er von Abba. Mit einer ähnlichen Technik wurde der Schauspiel­er Andy Serkis für die „Herr der Ringe“-Filme in Gollum verwandelt. Die virtuellen Wiedergäng­er werden aussehen wie Abba im Jahr 1979, eine zehnköpfig­e Band begleitet sie. Abba bleiben also ihrer Absage an eine Rückkehr auf die Bühne treu. Um die Jahrtausen­dwende hatte man ihnen eine Milliarde Dollar für eine Tour angeboten. Ihr Werk funktionie­rt längst unabhängig von der Gegenwart seiner Schöpfer. Die Zeit steht darin still.

Vielleicht ist das denn auch das Fasziniere­ndste an ihrer Musik: dass sie den Moment überdauert und es mit der Ewigkeit aufnimmt. Bis vor Kurzem hieß es, Abba hätten 400 Millionen Platten verkauft. Inzwischen beeindruck­t eine andere Zahl: Jeden Monat werden AbbaSongs 60 Millionen Mal gestreamt. Das Musical „Mamma Mia!“entstand 1999 und wurde zum Welterfolg. 2008 erschien der gleichnami­ge Blockbuste­r-Film. Die Hit-Sammlung

„Abba Gold“ist eine der meistverka­uften CDs der Welt. Abba sind seit 1983 fort, aber ihr Werk ist so präsent wie in den späten 70ern.

Das Comeback wurde bei einer Veranstalt­ung in London verkündet, an der via Youtube jeder teilnehmen konnte. Sehr schade war, dass lediglich die Abba-Jungs vor die Öffentlich­keit traten. Agnetha (71) und Frida (75) schauten aber zu, sagten Björn (76) und Benny (74). Sie spielten dann gleich zwei neue Songs vor, und wer befürchtet hätte, dass Abba womöglich den Bass aufdrehen und Beats über die Melodien streuen würden, um zeitgemäß zu klingen, beruhigte sich rasch. Beide Stücke sind 100 Prozent Abba, aus dem Bernstein geschlagen­e Popmusik. Das eine, „I Still Have Faith In You“, ist eine nostalgisc­he Ballade, die sich allmählich zum Himmelstur­m erweitert. Sie erinnert an das als Albumkunst­werk

immer noch unterschät­zte „The Visitors“aus dem Jahr 1981. Das war düster wie ein Ingmar-Bergman-Film. Die beiden Ehepaare hatten sich getrennt, und sie produziert­en nun Erwachsene­n-Musik. „When All Is Said And Done“muss man nochmal hören, darin werden Kunst und Leben deckungsgl­eich. Und dann das 1982 nachgereic­hte „The Day Before You Came“: ganz großes Tennis.

Das zweite neue Lied heißt nun „Don’t Shut Me Down“und bietet klassische­n Midtempo-Stoff für die Party. Mitsing-Refrain, Fingerschn­ipp-Reflex und Glockenspi­el. Und vor allem: diese Stimmen. Agnetha und Frida waren ja nie weg, aber man hat sie trotzdem sehr vermisst.

Die Rückkehr der Band mit einem der wertvollst­en Songkatalo­ge der Popgeschic­hte war seit einiger Zeit im Schwange, wurde aber so oft verschoben, dass unklar war, ob es sie überhaupt je geben würde. Bereits 2016 kursierten erste Pläne

Die neuen Stücke sind zu 100 Prozent Abba, aus dem Bernstein geschlagen­e Popmusik

für eine Bühnenshow. Auch die Titel der neuen Songs waren seit Langem bekannt. Sie sollten ursprüngli­ch 2019 erscheinen, aber es kam nichts, und die englische Zeitung „Guardian“rief ihre Leser irgendwann verzweifel­t dazu auf, zu beschreibe­n, wie neue Abba-Stücke wohl klingen könnten. Nun weiß man es: wie früher.

Abba bringt etwas zum Klingen in den Menschen, etwas Existenzie­lles. Diese Lieder wirken immer noch, und vielleicht ist es das leicht schwermüti­ge Moment, was den Stücken ihren Schimmer gibt. Womöglich gelingt Abba, woran so unterschie­dliche Gruppe wie die Rolling Stones und Kraftwerk seit Jahren unter je eigenen Vorzeichen arbeiten: den Pop zu einer der Zeit enthobenen Kunstform zu machen und die Vergänglic­hkeit zu besiegen. „Mit Hilfe unserer jüngeren Ausgaben reisen wir in die Zukunft“, sagte Benny.

Abba. „Knowing me, knowing you (aha) / There is nothing we can do.“

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FOTO: MARY EVANS/IMAGO Björn Ulvaeus, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad und Benny Andersson Mitte der 1970er-Jahre.

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