Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die undurchsichtige Gülen-Bewegung
Nach dem Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 versprachen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in Deutschland Transparenz. Doch fünf Jahre danach liegen immer noch viele Aktivitäten im Dunkeln.
Für Recep Tayyip Erdogan war der Putschversuch vor fünf Jahren ein Geschenk Gottes: Anschließend konnte der türkische Staatspräsident unbarmherzig, meist rechtswidrig und ungehindert die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen aus dem Weg räumen. Die Bewegung hatte sich allein durch ihre personellen und finanziellen Ressourcen in vielen Bereichen von Staat und Gesellschaft als ernsthafter Machtfaktor und Konkurrentin entpuppt.
Tatsächlich waren die Militäroffiziere der Bewegung am Putsch maßgeblich beteiligt – davon gehen inzwischen auch deutsche Experten wie Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik aus.
Insgesamt rund eine halbe Million Menschen wurden seither wegen Verbindungen zur von Erdogan so bezeichneten „Terrororganisation“Gülens entlassen, inhaftiert, angeklagt, verurteilt. Wer kann, der flieht. Wenn es irgendwie geht, nach Deutschland. Hier, das lässt sich aus den Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge herauslesen, beantragten seit dem Jahr 2016 etwa 23.000 Gülen-Anhänger Asyl, in Nordrhein-Westfalen sind es bisher etwa 6000. Die Anerkennungsquote ihrer Anträge liegt bei rund 80 Prozent.
In NRW ist die Bewegung längst aktiv. Bereits lange Zeit vor dem Putsch, in den 90er-Jahren, hatten sich hier mehr als 60 Einzelorganisationen gegründet. Hinzu kommen religiöse Wohnheime, sogenannte Lichthäuser. Studenten beziehungsweise – in den Damen-Häusern – Studentinnen leben hier. Jugendliche aus den frommen türkischen Familien im Ort gehen zur Unterweisung in islamischer Lebensführung bei den Mentoren, den Abis (älteren Brüdern) und Ablas (älteren Schwestern), ein und aus.
Yasin war gerade ein Teenager, 13 Jahre alt, als junge Männer ihn einluden, zu ihnen ins Lichthaus zu kommen. Erst erhielt er dort Nachhilfe. „Das war auch nötig“, sagt der heute 28-Jährige. In der Oberstufe, während seines Abiturs auf einem staatlichen Gymnasium im Rheinland, begannen im Lichthaus Kontrolle, Druck und Mobbing. Er wohnte nun dort, und die Studenten-Abis
bestimmten über seinen Alltag. Sie brachten ihm Sittlichkeit bei, Verschwiegenheit gegenüber Deutschen und verbreiteten religiöse Mythen wie den, dass Gülen in direktem Kontakt mit dem Propheten Muhammad stehe. Der Prediger lebt seit 1999 in Pensylvania. Zuvor hatte ihn die türkische Justiz ins Visier genommen. Gülen hatte die Anhänger aufgerufen, sich in den staatlichen Strukturen zu organisieren. „In der Zukunft werden unsere Freunde dort der Pulsschlag, die Sicherung unserer Existenz sein“, erklärte er in einer aufgezeichneten, noch heute im Netz kursierenden Predigt. Der Staatsanwalt nahm die Ermittlungen gegen ihn wegen des Aufrufs zum Umsturz auf. Gülen floh in die Vereinigten Staaten – und kehrte nicht mehr zurück.
Yasin begann, sich mit der Tochter eines Autohändlers zu treffen. Doch der war der wichtigste Sponsor der Bewegung am Ort, und Kontakte zu Mädchen waren tabu. Die Abis spionierten ihn aus, verleumdeten ihn bei Familie und Freunden. Sie wollten, dass er umzog. Nach Wuppertal. Yasin wehrte sich und stieg ganz aus. Die elfte Klasse musste er wiederholen. Die Erlebnisse, die auch körperlich eskalierten, beschäftigen den Ingenieur bis heute. „Es war schlimm. Ich hatte ihnen seit meinem 13. Lebensjahr vertraut – und dann gingen sie auf mich los“, erzählt er.
Religiöse Jugendarbeit des Netzwerks
findet in Nordrhein-Westfalen nicht nur in solchen informellen Wohnheimen, sondern auch in insgesamt 66 Vereinen statt. Dass es überhaupt ein Netzwerk gibt, stritten die Aktiven bis 2016 ab. Erst nach dem Putschversuch versprachen sie mehr Transparenz nach außen. Zwar führen die lokalen Organisationen online bis heute keinen Hinweis auf Gülen an. Aber 2014 gründeten Abis und Funktionäre in Düsseldorf den Verband Engagierte Zivilgesellschaft ( VEZ), bezeichnen sich auf der Webseite als „Hizmet-nah“und listen seit dem vergangenen Jahr bisher 66 Hizmet-Mitgliedsvereine in NRW auf. „Hizmet“(„Dienst“) ist die Eigenbezeichnung der Gülen-Bewegung. In einem Telefongespräch erklärt Genç Osman Esen, der Vorsitzende des VEZ: „Ich lege unseren Mitgliedsvereinen im Rahmen unserer Transparenzoffensive nah, ihre Hizmet-Zugehörigkeit öffentlich zu machen. Die Kontrolle gehört jedoch nicht zu meinen Aufgaben.“
30 Jahre dauerte es, bis die deutsche Öffentlichkeit Berichte wie den von Yasin ernst- und aufnahm. Behörden, das zeigen Anfragen, erkennen bis heute weder den religiösen Hintergrund noch das Netzwerk. Das NRW-Sozialministerium erklärt auf Anfrage schriftlich, dass einzelne Vereine ein Netzwerk bildeten, sei ja nur eine „Vermutung“. Die Fragen nach Fördersummen werde man deswegen nicht beantworten. Später kommt dann doch die Auskunft: 2019 und 2020 genehmigte das Sozialministerium für Projekte im Gülen-Jugend- und -Flüchtlingsbereich rund 1,8 Millionen Euro. Von den fünf Bezirksregierungen
kam eine weitere Million. Die Förderungen für Kindergärten, vier Privatschulstandorte und offizielle Integrationskurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind hier noch nicht eingerechnet.
Viel Bewegung ist im Ruhrgebiet. Der Rheinische Dialog- und Bildungsverein (RDuB) betreibt in Duisburg-Hamborn seit 2016 die private Kant-Berufsfachschule. Dafür erhält er 340.000 Euro pro Jahr. Die Gülen-Verbindungen der Schule sind nicht leicht zu erkennen. Bei einer Recherche vor Ort erklärte der Schulleiter Hartmut Fellwisch, man habe nichts mit einem religiösen Netzwerk zu tun. Der Geschäftsführer der Schule, Yusuf Ordueri, ist jedoch ein Gülen-Profi in Sachen Schulaufbau und hat seit Jahrzehnten Posten in verschiedenen Organisationen des Netzwerks: So war er 2008 an der Gründung des gülennahen Deutsch-Türkischen Gymnasiums in Hannover beteiligt und bis 2013 Geschäftsführer des heutigen Schulzentrums Buchheim in Köln, das ebenfalls von Gülen-Anhängern betrieben wird. Im VEZ ist der Bauingenieur langjähriges Vorstandsmitglied, derzeit als Kassenwart. Stillstand kennt die Bewegung nicht. Im vergangenen Jahr gründete Ordueri eine weitere gemeinnützige GmbH, die Rheinische Bildungsakademie Duisburg. Der Unternehmenszweck ist laut Handelsregister der Betrieb von Bildungseinrichtungen. Am Tag der offenen Tür im vergangenen Jahr will er nicht mit der Presse reden, tut es aber dann doch. Die Gülen-Bewegung habe mit der Arbeit in Duisburg nichts zu tun, betont er.
Für die Jugendarbeit des RDuB flossen in den Jahren 2019 und 2020 zusätzlich 145.000 Euro, unter anderem für ein Projekt „Hilfsbereite Jugend NRW“. Pädagogische Ziele waren laut der Vereinswebsite „Einfühlungsvermögen in andere Lebensstile, Sensibilisierung, Aufklärung, Toleranz, Respekt und
Anerkennung neuer Kulturen“.
Tatsächlich war es eine Fernreise mit dem Ziel Nigeria, zur Nile University. Diese gehört zum nigerianischen Gülen-Netzwerk, einem der wohlhabendsten in Afrika. 3500 Studenten hat die 2009 gegründete Uni. Hinzu kommen zehn Schulen, Unternehmerverbände, ein Krankenhaus, Reiseagenturen und die Ufuk-Dialogstiftung. Beim Landschaftsverband Rheinland (LVR), der die Förderung des Projektes genehmigte, weiß man all das nicht. Vom RDuB gibt es keinerlei Antwort zur Reise, auch nicht, ob Mädchen teilgenommen haben. Der LVR gibt Auskunft: Die Exkursion kostete den Steuerzahler 18.200 Euro. Sechs Jugendliche und zwei Betreuer nahmen teil.
Auch Vereinen aus anderen Städten wie Siegen, Witten, Langenfeld und Leverkusen finanzierte NRW die Einbindung der Jugendlichen in die internationalen Gülen-Strukturen. Laut Genehmigungsbehörden gab es insgesamt 135.600 Euro für Reisen nach Tansania, Äthiopien, Mosambik, Ägypten und Bosnien. In all diesen Ländern gehören die Kooperationspartner, die die Vereine in ihren Anträgen nannten, zum Gülen-Netzwerk.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband NRW ist ebenfalls eine Anlaufstelle für die Jugendförderung. Bisher sind hier neun Vereine des Netzwerks Mitglied. Doch seit dem vergangenen Jahr grummelt es. Ein Gülen-Verein aus Düren hatte die Aufnahme beantragt, der Vorstand lehnte nach einem Aufnahmegespräch ab. Landesgeschäftsführer Christian Woltering erklärt, der Umgang mit der Bewegung werde jetzt überprüft: „Aktuell werden keine Organisationen aus dem Gülen-Spektrum in den Paritätischen NRW neu aufgenommen.“
„Es war schlimm. Ich hatte ihnen seit meinem 13. Lebensjahr vertraut – und dann gingen sie auf mich los“
Yasin ehemaliger Anhänger der Gülen-Bewegung