Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Angela Merkel und ihre Krisen
Eine Ära geht zu Ende. Die Bilanz fällt, bei allem Respekt, zwiespältig aus: Die Bundeskanzlerin musste einige Krisen bewältigen, aber wie gut gelang ihr das eigentlich wirklich?
Sie geht. Das steht längst fest, so unwirklich es immer noch klingen mag. Wann genau, ist unklar. Zwar steht in drei Wochen die Bundestagswahl an, aber bis die nächste Koalition sich gefunden hat, kann es dauern. Es dürfte kompliziert werden, egal in welcher Konstellation. Sie selbst hat schon vor Monaten angedeutet, dass vielleicht noch eine Neujahrsansprache auf sie zukommen könnte. Beim letzten Mal dauerte die Regierungsbildung schließlich fast fünf Monate bis ins Frühjahr. So könnte sie Helmut Kohl, der bisher am längsten als Bundeskanzler amtierte, noch überholen. 16 Jahre plus x.
Aber es ist nicht nur die Länge ihrer Amtszeit, die Angela Merkel historische Bedeutung verleiht. Da sind zum einen weitere objektive Merkmale: die erste Frau an der Spitze der Bundesregierung und, anders als ihre Vorgänger, in der DDR aufgewachsen. Doch auch in der politischen Abwägung lässt sich kaum bestreiten: Angela Merkel scheidet als eine der bedeutendsten Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte aus dem Amt.
Mit Helmut Kohl steht sie wohl auf Augenhöhe. Am Anfang wurde er noch ähnlich mit Häme und Spott überzogen wie heute Armin Laschet. Erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs erlangte er Größe, als er die historische Chance ergriff und die keineswegs zwangsläufige Wiedervereinigung Deutschlands forcierte. Sein späterer Umgang mit Parteispenden, bei denen er sein angebliches Ehrenwort über das Recht stellte, beschädigte das Bild. Und die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft waren von einer Lethargie überschattet, die zu seiner Abwahl führten.
Anders als Merkel, die einst als Kohls Mädchen tituliert wurde, schied er nicht selbstbestimmt aus dem Amt, fand also den richtigen Zeitpunkt nicht. Merkel hingegen hätte vermutlich noch weitere vier Jahre regieren können, hätte sie es denn gewollt. Sie beendet ihre Amtszeit mit höchsten Popularitätswerten. Lieber zu früh als zu spät Abschied zu nehmen, gelingt ihr in diesen Wochen – auch das ein historisches Novum.
Im Vergleich mit Gerhard Schröder, ihrem direkten Vorgänger, ergibt sich ein eindeutiges Bild: Sie ist die Größere der beiden. Man müsse doch die Kirche im Dorf lassen, seine SPD werde sie auf keinen Fall zur Bundeskanzlerin wählen, ätzte er am Wahlabend am 18. September vor 16 Jahren noch selbstgewiss, aber es kam anders. Und seine Amtszeit war auch nicht annähernd von historischen Zäsuren bestimmt, wie sie Kohl und Merkel erlebten.
Von ihm bleibt zwar das Nein zum Irakkrieg, das mindestens im Nachhinein zwingend war, weil die USA den Angriff mit erfundenen Chemiewaffen begründeten. Nach den 9/11-Anschlägen von 2001 hatte er noch die „uneingeschränkte Solidarität“mit den USA ausgerufen und so dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr den Weg bereitet, der sich nun, 20 Jahre später, als komplettes Debakel entpuppt hat. Auch er hatte historische Ereignissen zu bewältigen, aber nicht so etwas wie das Ende des Kalten Kriegs oder eine Weltfinanzkrise.
Vor allem die innenpolitische Agenda 2010 prägt heute das Bild von Schröder – von der in der Folge sinkenden Arbeitslosigkeit konnte seine Nachfolgerin lange politisch profitieren. Er hatte erst gehandelt, als es gar nicht mehr anders ging, und scheiterte nach der von ihm selbst gestellten Vertrauensfrage schließlich an den Neuwahlen. Seine Partei legte sein Reformgebäude später nach und nach in Trümmer, und er selbst scheint mit seinem Engagement für russische Konzerne seinen Ruf geradezu mutwillig beschädigen zu wollen. Kohls zweifelhaftes Ehrenwort und Schröder zweifelhafte Freunde zeugen von einer ähnlichen Überhöhung der eigenen Person, von der Merkel weit entfernt ist.
Im Gegenteil, sie zeigte eine betont nüchterne Art, die keine Eitelkeiten erkennen lässt, und ein geradezu legendäres Arbeitsethos, das so oft spätnachts zu Kompromissen in Berlin und Brüssel geführt hat. Sie gilt vielen als Bundeskanzlerin, die Deutschland erfolgreich durch Krisen geführt habe. Sie denke die Dinge vom Ende her, hieß es lange über sie. Aber beides, der Erfolg und die Methode, stellen sich am Ende ihrer Amtszeit zwiespältig dar.
In den Krisen jener 16 Amtsjahre, zuletzt in der Pandemie, dachte sie erkennbar wenig vom Ende her, sondern betonte im Gegenteil immer wieder, man müsse auf Sicht steuern. Die Physikerin tarierte die Dinge immer wieder aus wie in einer großen Versuchsanordnung. Das Ende nahm sie weniger in den
Blick – wie das Land aus der Corona-Erstarrung wieder in eine Normalität finden soll, macht sie bis heute nicht zum Thema. Es gibt keinen Plan, dabei sind inzwischen gut 60 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.
Die Frage, wie gut Deutschland die Corona-Krise unterm
Strich gemeistert hat, lässt sich schwer beantworten – in unterschiedlichen Phasen unterschiedlich gut. Gemessen am härtesten Indikator fällt die Antwort allerdings eindeutig aus: Knapp 100.000 Menschen sind bisher an oder mit dem
Virus gestorben, im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich weniger als in vielen anderen Ländern. Auf rund 1100 Tote pro eine Million Einwohner kommt Deutschland, während es in den USA und Großbritannien mehr als 1900 sind. Auch Schweden steht mit über 1400 nicht besser da, aber es gibt auch Länder mit deutlich niedrigeren Werten, etwa Dänemark und erst recht Japan, Südkorea und Australien.
Die deutschen Krankenhäuser waren zeitweise am Limit, aber sind nie ins Chaos gerutscht, das erklärte Ziel wurde erreicht.
Die zermürbenden Scharmützel in den Ministerpräsidentenkonferenzen unter Merkels Führung, vom Grundgesetz gar nicht vorgesehen, kosteten Zeit und Vertrauen. Eine schlampig verhandelte und nicht umsetzbare Osterruhe musste sie zurücknehmen, begleitet von einer öffentlichen Entschuldigung, wie es sie noch nicht gegeben hatte. Und bis heute läuft es weder in den Schulen rund, noch klappt die digitale Nachverfolgung von Infektionsketten. Nicht alles lässt sich ihr anlasten, in der Corona-Krise hat sie viele richtige Entscheidungen durchgesetzt. Aber die Verwaltungen in Ländern und Kommunen kamen schlicht nicht hinterher, und häufig fehlte es an Effizienz.
Das ist ein Phänomen, das sich schon in der Flüchtlingskrise so eindrücklich zeigte, dass ihr möglicher Nachfolger Armin Laschet heute sagt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Als Merkel vor sechs Jahren die EU-Binnengrenze zu Ungarn nicht schloss, löste sie zunächst eine nahezu euphorische Stimmung aus. An den Bahnhöfen versammelten sich Bürgerinnen und Bürger, um die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Wie menschlich, wie schön – das Bild vom hässlichen Deutschen schien überwunden. Doch die Behörden kamen nicht hinterher. Niemand wusste so ganz genau, wer einreiste, die Kommunen waren völlig überfordert, und es fehlte an einem Plan, wie es weitergeht. Vom Ende gedacht und effizient geregelt war das alles nicht, und wohl erst dieses Versäumnis bescherte der AfD den Aufwind, der die rechtsradikale Partei sukzessive in alle Landtage und in den Bundestag brachte. Und hier zeigt sich auch exemplarisch, dass Merkel nie für ein besonders dickes Wertefundament stand. Auf das Signal, die Flüchtlinge willkommen zu heißen, folgte, dank des dann entstandenen politischen Drucks, eine systematische Abschottung, die in einem moralisch anfechtbaren Abkommen mit der Türkei gipfelte. Für beide Pole des Umgangs mit den Flüchtlingen stand die Bundeskanzlerin, auf Sicht änderte sich ihr Kurs ins Gegenteil.
Ein anderes Beispiel für diese Art des Regierens zeigt der Atomausstieg: Zunächst sorgte sie für längere Laufzeiten, um nach dem Reaktorunglück von Fukushima und kurz vor einer Landtagswahl in Baden-Württemberg plötzlich das Gegenteil zu forcieren. Das offensichtliche Kalkül des vor gut zehn Jahren beschleunigten Atomausstiegs: Das Stammland der Industrie sollte nicht an die Grünen fallen, was aber misslang, Winfried Kretschmann regiert es seitdem. Und der Steuerzahler muss Milliardenentschädigungen für den abrupten Kurswechsel tragen, ganz zu schweigen von den Belastungen, die der gleichzeitige Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleverstromung mit sich bringt. Merkels größte Qualität besteht vielleicht darin, dass es ihr oft gelang,
die Dinge meisterlich auszutarieren und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen. Das gilt für die Finanz- und Eurokrise ganz besonders. Dass die Gemeinschaftswährung und EU nicht auseinanderbrachen, ist wohl vor allem ihr und Mario Draghi zu verdanken. Merkel hat das politische System stabilisiert – aber eben auch nicht mehr. Die europäische Idee konnte sie nicht mit neuem Leben erfüllen, die Einigung der Gemeinschaft nicht entscheidend vorantreiben. Und so ähnlich gilt das auch für ihre eigene Partei, der sie zwar für historische 16 Jahre die Macht sicherte, die sie aber zerrissen hinterlässt.
Und so endet die Ära von Angela Merkel mit einem asymmetrischen Wahlkampf, bei dem der eigentliche politische Gegner sich als ihr legitimer Nachfolger inszeniert, wohingegen ausgerechnet der Kanzlerkandidat des eigenen Lagers ein „Modernisierungsjahrzehnt“für nötig hält. Olaf Scholz präsentiert sich auf einem Magazintitel mit MerkelRaute und behauptet auf Wahlplakaten, er könne Kanzlerin, während Armin Laschet eine „Entfesselung“propagiert, als ob die 16 Jahre vergeblich gewesen seien.