Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die alte Eiche, mein Opa und ich
Jahrelang hat der britische Schriftsteller James Canton ein Exemplar des Baums der Bäume beobachtet. In unserem Autor hat das verschüttete Erinnerungen geweckt. Eine Geschichte über Heimat und Familie.
Mit einigem Abstand ist die Wunde vernarbt, ich habe einen Umgang mit der Ungerechtigkeit gefunden, ja, ich kann sogar darüber lachen, klüger und reifer, wie ich inzwischen bin. Heute kann ich aus echter innerer Überzeugung schreiben: Es ist kein Skandal, dass das Online-Lexikon Wikipedia in seiner Liste der „Tausendjährigen Eichen“jene im ostwestfälischen Borlinghausen unterschlägt, die ich als kleiner Junge Mal um Mal ehrfürchtig bestaunte.
Dieser Baum am Rande des Weges in das Nachbardorf mit dem prächtig-wundersamen Namen Löwen war End- und Höhepunkt ungezählter Spaziergänge an der Hand meiner dortigen Verwandten. Mein Patenonkel ist passionierter Bauer und Teilzeit-Förster. Mein Opa wollte nie etwas anderes sein als Schreiner, weshalb er in der Familie auch nicht Opa Josef hieß oder Opa Borlinghausen, sondern: Opa Schreiner.
Mit seiner kleinen Werkstatt wurde er alt und glücklich. Zu Geld kam er nie, denn er nahm zu wenig für die Tische und Treppen, Schränke und Särge, Fenster und Türen. Schon gar nicht ließ er sich die zusätzliche Sorgfalt bezahlen, die er stets aufwendete, aus Respekt vor den Kunden wie auch dem Holz, dessen Qualität er spürte, und zwar nicht bloß mit den Fingerkuppen.
Jeder Baum sei ein Gedicht, das „die Erde in den Himmel schreibt“, hat der große Autor Khalil Gibran befunden. Auch für Opa Schreiner war ein Wald, insbesondere ein Eichenwald, etwas Schönes. Vor allem jedoch war er Ressource. Eine nachwachsende, die es zu hegen galt, schon damit es auch morgen noch etwas zu hobeln geben würde. Sein Mantra lautete: „In der Ruhe liegt die Kraft.“
Jeder alte Baum ist ein Großmeister der Ruhe. Unbewegt und unbeeindruckt von Moosen und Flechten, Insekten und Pilzen, Hitze und Hagel in den Jahrhunderten. Ganz zu schweigen von den im Zeitraffer vorbeirasenden Menschen – Festund Trauerzüge und all die Armeen. Apropos: Hiesige Bäume sind verhältnismäßig jung. Das „Zeit-Magazin“schrieb knapp: „Linksrheinisch herrscht, die Kriege werden’s gewesen sein, Altbaumarmut.“
Die Borlinghauser Rieseneiche habe Karl der Große persönlich gepflanzt, heißt es. Doch selbst wenn seine Majestät mitsamt dem Schößling erst kurz vor seinem Tod im Dorfe eingeritten wäre, hätte man, wäre irgendetwas daran verbürgt, unter Garantie schon im Geburtsjahr meines Opas 1914 von der elfhundertjährigen Eiche gesprochen. Wie alt sie tatsächlich ist, lässt sich nicht mehr bestimmen. Das Kernholz ist längst weggefault.
Doch ein Baum, der die letzten Langschiffe der Wikinger live erlebt haben könnte, das Hochmittelalter und die Renaissance, die gesamte Neuzeit ohnehin, der im Dreißigjährigen Krieg bereits 600 Jahre alt war? Im eigenen Dorf? Klingt prima, wurde also landauf, landab gerne mal frisch behauptet. Denn Tausend Jahre sind praktisch dasselbe wie Unendlichkeit. Ein Millennium. Einhundert Jahrzehnte. Zehn Jahrhunderte.
Fakt ist: Altes Holz ist in aller Regel gutes Holz, weil hohes Alter langsames Wachstum bedeutet, und das verspricht Homogenität und Härte. Weiterhin: Nach 80 Jahren Ehe feiert man Eichenhochzeit. Und: Bis zu zwölf Meter soll der Stamm der Borlinghauser Eiche umfassen. Rund 60 Meter Kronenumfang bei 18 Metern Höhe. All das ist am Ende kaum aussagekräftiger als ihre Position: 51,581527 Grad Nord bei 9,053527 West. Aha.
Wer sich einem Baum mit Zahlen nähert, kommt auf keinen grünen Zweig. Denn man muss diese Eiche gesehen haben. Unheimlich wuchtig ist sie, geradezu monumental, mehr Bergmassiv als Baum. Die graue Rinde wirkt wie verwittertes Felsgestein. Knorrig. Eigenwillig. Unerschütterlich. Wie ein alter, ein sehr alter Kapitän. Oder dessen Schiff, das Dutzende Orkane überstanden hat. In diesem Fall womöglich Blattflecken und Blattbräune, Feuerschwamm, Eichenprozessionsspinner und den Zweipunktigen Eichenprachtkäfer.
Der vernarbte, von Wucherungen und Moos überzogene Stamm der Eiche ist schon seit Generationen in zwei Teile gespalten. Das Innere ist nicht nur hohl, sondern eine veritable Höhle. Der Dorfchronik zufolge, von deren Titel natürlich die Eiche prangt, fanden einst 15 Schulkinder stehend darin Platz. Seit Jahrzehnten müht sich der Mensch, die alte Dame zu stützen und stabilisieren. Man umwickelte sie mit Eisenbändern wie ein überdimensionales Weinfass, spannte ein Halteseil zu einem Nachbarbaum, zog sogar ein Stückchen Mauer ein.
Auch zurückgeschnitten wird die Eiche regelmäßig. Als mein Vater etwa zehn Jahre alt war, sägten Baumchirurgen zum Schrecken der Dorfbewohner einen massiven Ast komplett ab. Ein Stück der Rinde nahm er mit, als Dach für ein Vogelhäuschen. Als Andenken erschien es absurd: Die Eiche war das Gegenteil von flüchtig; sie würde stehen, bis er selbst Vater und Opa, mit Glück sogar Uropa wäre. Aus demselben Grund existiert kein Foto von einem von uns vor der Eiche. Wenn den Dorfjungs heimatlich zumute war, auf dem Schützenfest etwa nach zehn oder mehr Bier, dann sangen sie: „Wo die dickste Eiche ganz Westfalens steht, da ist meine Heimat, wie ihr alle seht!“
Über all das reden wir plötzlich, weil ich von einem neuen Buch erzählt habe: Für „Biografie einer Eiche“(Dumont, 208 Seiten, 22 Euro) hat der Brite James Canton seinen Lieblingsbaum beobachtet. Zwei Jahre lang. Nicht am Stück natürlich, aber regelmäßig und immer öfter hat es ihn zu einer Stieleiche auf dem Landgut Markshall in Essex gezogen, ein wenig östlich von London. 800 Jahre alt, ein Prachtexemplar hinter einer Steinbrücke über einen Teich in einem hügeligen Obstgarten. Der kurze Spaziergang fühle sich an „wie der Weg zurück ins Paradies“, schreibt Canton, und dass ihn unter seiner Eiche stets ein unerklärlicher „sanfter Trost“umfange. Sein Buch ist eine meditative Abfolge ausführlichster Naturschilderungen. Was er an Fakten einflicht, lässt eine neue Wertschätzung wachsen für Bäume im Allgemeinen und Eichen im Besonderen.
Leben – im Sinne von Überleben – lässt sich mit Luft, Wasser und Brot allein. Holz aber ermöglicht ein Leben, das diese Bezeichnung auch verdient. Es lässt sich formen zu Hütten und Häusern, also zu einem Schutz vor den Elementen. Zu Möbeln sowieso. In Form von Schiffen und Karren verleiht es Mobilität, als Feuerholz spendet es Wärme und Licht, ermöglicht Kochstellen und Schmieden für Werkzeuge, Waffen, Schmuck. Schweine lieben die Eicheln, und in Hungersnot backt auch der Mensch sein Brot aus Eichelmehl.
Ihre imposante Erscheinung machte die Eiche zum am meisten verehrten Baum von Griechen und Germanen, Galliern und Römern, Kelten und Christen. Unter Eichen wurde gebetet, geopfert und Recht gesprochen. Der Baum der Bäume symbolisiert Stärke, Stolz und Standhaftigkeit, prägt die Identität von Deutschen und Briten, Amerikanern und Franzosen, Walisern und Zyprern, Serben und Kroaten.
Shakespeare schrieb nicht nur viel über Eichen, sondern auch stets mit Tinte aus von Eichen geernteten Galläpfeln. Dasselbe gilt für die Skizzen von da Vinci und van Gogh, die Partituren von Mozart und Bach, Newtons Gesetze, die Magna Carta, die Unabhängigkeitserklärung der USA – und auch so ziemlich alles andere bis ins 19. Jahrhundert.
Angesichts all dessen lässt mich das Fehlen des Borlinghauser Baums in der Liste der Tausendjährigen Eichen, das ich einst als beinahe frevelhaft empfand, nun kalt. Zumal die Liste insofern irrelevant ist, dass sie bloß „sogenannte“Tausendjährige Eichen aufführt – kaum eine ist älter als 400 Jahre. Aber der Mensch neigt zum Übertreiben, und insbesondere gilt das offensichtlich für die Bayern (sechs angeblich uralte Eichen) und Hessen (fünf ).
Mehr Ehrfurcht noch als die Zahl mit den drei Nullen gebietet ein altes portugiesisches Gedicht, das hierzulande als „Gebet des Baumes“mäßig bekannt ist und in den USA als „Prayer of the Woods“an den Startpunkt jedes zweiten Waldwanderwegs genagelt ist. „Ich bin der Dachstuhl deines Hauses und das Brett deines Tisches“, heißt es darin zur freundlichen Erinnerung: „Ich bin das Bett, in dem Du schläfst. Ich bin das Holz deiner Wiege und deines Sarges.“Recht hat der Baum, auch im Jahre 2021 und noch auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hinaus.
Nicht im Geringsten überraschen, aber umso mehr freuen würde das neben Opa Schreiner auch Joseph Beuys. Dem lag die Eiche so sehr am Herzen, dass er 1982 ganze 7000 Exemplare in Kassel pflanzen lassen wollte, was im Grundsatz auch gelang, obwohl viele Bürger in Furcht vor „Laub und Vogelscheiße“den jungen Bäumen alten Beton vorgezogen hätten. Zwecks Finanzierung der vier Millionen Mark teuren Aktion ließ sich Beuys zu einem Werbespot im japanischen Fernsehen herab. Darin steht er in einem Wald, sein Glas erhoben zum Prosit, und sagt den schönen Satz: „Ich habe mich vergewissert: Der Whisky war wirklich gut.“Wird er wohl gewesen sein – im Eichenfass gereift.
Wenn mein Opa gewollt hätte, wäre er 100 geworden, da bin ich mir sicher. Aber das interessierte ihn so wenig wie es eine Eiche interessiert, ob sie 1000 Menschenjahre erreicht. Also ging er, als seine Arbeit getan war; am 1. Mai 2008, mit dreiundneunzigeinhalb. Seine Werke bleiben. Kein Kunsthandwerk, aber Handwerkskunst. Holz auf Holz, untereinander wenn irgend möglich unsichtbar verbunden. Im Zweifel geleimt oder verschraubt. Nie genagelt. Für die Ewigkeit gemacht. Opa Schreiner ging als zufriedener Mann, im Wissen, dass die Eiche ausgetrieben war und es noch viele Jahre tun würde.