Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Balztanz um die Macht
Eine Bundestagsdebatte in der heißen Wahlkampfphase verspricht Zündstoff. Weil alles offen ist, laufen sich viele für Bündnisse warm.
BERLIN Es ist ihre wahrscheinlich letzte Rede im Bundestag. Niemand ist deshalb überrascht, dass Angela Merkel (CDU) den goldenen Pinsel herausgeholt hat und mit dem Standardsatz „Und das war auch richtig so“ein leuchtendes Bild ihrer Leistungsbilanz malt. Selbst LinkenSpitzenkandidat Dietmar Bartsch ist darauf eingestellt, dem persönlichen Einsatz Merkels Respekt zu zollen. Doch plötzlich löst die Kanzlerin an diesem Dienstag Tumult im Hohen Haus aus. Minutenlang prägen Protestrufe die Stimmung im Saal. Denn Merkel hat – für viele wohl unerwartet – in den letzten Minuten die Rolle der über den Parteien schwebenden Regierungschefin verlassen und ist zur entschiedenen Wahlkämpferin mutiert. Es sei „nicht egal, wer dieses Land regiert“, hat sie quasi als ihre abschließende Botschaft in den Raum gestellt und vorher schon SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz für seine Äußerung von Geimpften als „Versuchskaninchen“kritisiert. Nun feuert sie eine Breitseite gegen eine mögliche SPD-Grünen-Koalition, die nicht ausschließe, mit Unterstützung der Linken zu regieren. „Schämen Sie sich!“, tönt es von den Linken. Empörung macht sich breit. „Meine Güte, was für eine Aufregung“, sagt sie zum Getöse aus Protestrufen. Sie sei seit über 30 Jahren Abgeordnete und frage deshalb, „wo, wenn nicht hier“, solche Fragen diskutiert werden müssten – in der „Herzkammer der Demokratie“.
Diese Herzkammer produziert aber weiter Bluthochdruck, als Merkel als „besten Weg für Deutschland“eine „CDU/CSU-geführte Regierung mit Armin Laschet als Bundeskanzler“empfiehlt. Aus der Kandidatenkür um ihre Nachfolge hat sie sich herausgehalten. Nun stellt sie sich voll hinter Laschet, der an diesem Morgen die ersten Umfragen mit nur noch 19 Prozent für seine Union und neun bei den Kanzlerpräferenzen
verkraften muss. Er macht es vom Stil her zwei Stunden später genauso wie Merkel: Erst ein Ritt durch die anstehenden Themen. Dabei, wie nebenher, eine gut einstudierte Attacke gegen Scholz (“„Man kann nicht mit der Raute durch die Gegend laufen und reden wie Saskia Esken“). Und dann als wichtigstes Ziel des Wahlkampfes die Verhinderung von Rot-Rot-Grün herausstellen.
Es sind die Linken, die ihm an diesem Tag den größten Gefallen tun. Sie beklatschen umgehend und wohl erstmals sowohl Laschet als auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, als diese die Debattenbeiträge der Linken als „Bewerbungsrede
für Rot-Rot-Grün“klassifizieren. Tatsächlich ist Bartsch aufs Ganze gegangen, hat die Zweifler an Regierungsverantwortung in den eigenen Reihen links liegen gelassen und rückhaltlos für ein Bündnis aus SPD, Grünen und Linken geworben. Dabei formt er sogar die Jamaika-Absage von FDP-Chef Christian Lindner von 2017 („Besser nicht als falsch regieren“) bewusst und doppelt um: „Besser gut mit den Linken regieren als falsch mit Lindner.“
Es ist ein Balzen um die Macht und die Frage, wer nach der Wahl wen zum Tanz bitten wird: „Vielleicht künftig gemeinsam“, hat die SPD schon bei der Debatte über die Tagesordnung der FDP zugesäuselt. Den Versuch der SPD, von der Perspektive eines rot-rot-grünen Bündnisses mit dem Hinweis auf eine ebenfalls denkbare Ampel aus SPD, Grünen und FDP abzulenken, greift auch Lindner auf. Er bescheinigt Scholz eine „gewisse Siegesgewissheit“, erinnert ihn jedoch daran, dass man nicht die Umfragen, sondern die Wahlen gewinnen müsse. Zudem dockt er gedanklich an das Jahr 1976 an. Damals habe der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl die Erfahrung machen müssen, dass man durchaus die Wahlen gewinnen und trotzdem ohne Koalition dastehen könne. Seinerzeit hatte die FDP nicht dem Wahlsieger Union,
sondern der unterlegenen SPD zur Machtverlängerung verholfen.
Scholz jedenfalls will seine „Versuchskaninchen“-Werbung fürs Impfen als „Scherz“verstanden wissen. Manche hätten darüber gelacht. Dass die Union das nicht tue, könne damit zusammenhängen, dass sie beim Blick auf die Umfragewerte gerade „nichts zu lachen“habe. Er bleibt trotz wiederholter Kritik der Kanzlerin an ihm auf Merkels Über-den-Parteien-Kurs. Scholz stellt den „Zusammenhalt“derart intensiv in den Mittelpunkt seiner Rede, als ginge es darum, eine Wette über möglichst häufige Erwähnungen eines Wortes zu gewinnen. Das ganze Land habe in der Krise zusammengehalten; auch die Regierung habe zusammengehalten („Schönen Dank, Frau Bundeskanzlerin“). Er gibt „drei Garantien für den Zusammenhalt“und verspricht damit, mehr für Kinder, fürs Wohnen und für die Rentner zu tun.
Wenn Scholz emotionale Empörung rüberbringen will, dann sagt er, er sei „sehr aufgeregt“, und spricht dann ruhig weiter. Anders die beiden anderen Kanzlerkandidaten: Geradezu kämpferisch greift Annalena Baerbock die Klima-, Migrationsund Außenpolitik von Union und SPD an, wirft den Kontrahenten vor, sich mal in Sachen Afghanistan vor der Verantwortung wegzuducken, sich mal in Sachen Flüchtlingen vor Viktor Orban zu verstecken. Per Zwischenfrage geht sie mit dem nachfolgenden Redner Laschet in einen direkten Streit um den Braunkohle-Ausstieg. Beide werfen sich gegenseitig Falschaussagen vor.
Laschet kämpft. Und teilt aus. Gegen Scholz, gegen Baerbock, gegen die AfD, gegen die Linke. Sicherlich auch gegen den Trend und gegen Restzweifel innerhalb der Union. Die dürfte er mit dieser Rede zumindest für den Augenblick überzeugt haben. Jedenfalls springen die Unionsabgeordneten jetzt auf, feiern ihren Kandidaten stehend. Wie vorher Merkel.