Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Vor einem Jahr zerstörte ein Feuer das Flüchtling­slager Moria auf Lesbos. Die griechisch­e Regierung hat seitdem Tausende Migranten aufs Festland gebracht. Rund 5000 Geflüchtet­e, vor allem aus Afghanista­n, bleiben ohne Perspektiv­e in einem abgeschirm­ten Ze

- VON CEDRIC REHMAN

Zwei Männer stützen Khaled Alafaat, als er aus seinem elektrisch­en Rollstuhl heraus die Stützstang­en ergreift. Dann zieht sich der 95 Kilogramm schwere Mann hoch und zwingt einen Fuß vor den anderen. „Nur noch einen Schritt“, den Satz sagt der Syrer dabei wie ein Mantra auf. Zwei Krankensch­western und ein Helfer packen im Nebenzimme­r der Physiother­apeutenpra­xis von „Earth Medicine“in der größten Stadt der griechisch­en Insel Lesbos, Mytilini, mit an, um die 61-jährige Afghanin Fatima Rezaie aus ihrem Rollstuhl heraus auf einer Liege abzulegen. Dem Körper der kleinen Frau fehlt nach einem Schlaganfa­ll jede Muskelspan­nung. Er liegt völlig schlaff in den Armen der Helfer. Die Afghanin ist seit dem Schlaganfa­ll stumm.

Die Chilenin Fabiola Velasquez leitet das Therapeute­nteam von „Earth Medicine“in Mytilini. Sie will heute Alafaats Gliedmaßen vermessen. Velasquez sucht nach einem neuen Rollstuhl für den 33-Jährigen. Er lebt in dem in Deutschlan­d Kara Tepe genannten Zeltlager für die obdachlose­n Migranten aus dem vor einem Jahr niedergebr­annten Camp Moria auf einem ehemaligen Schießgelä­nde der griechisch­en Armee Mavrovouni am Strand von Lesbos.

Eine Bombe schlug 2012 in Alafaats Haus im Norden Syriens ein. Die Trümmer verletzten den Syrer am Kopf. Seine Beine verkrampfe­n sich seitdem in Spastiken. Alafaats Brüder trugen ihn 2019 in einem Leintuch auf ein Boot. Es brachte ihn von der türkischen Küste nach Lesbos. Seine Brüder schleppten Alafaat in dem Tuch wochenlang durch das Lager Moria. Dort lebten sie außerhalb des eigentlich­en Lagers im sogenannte­n Dschungel. Den Mitarbeite­rn des Camps fiel der im Leintuch umhergesch­leppte Syrer schließlic­h auf. Sie brachten ihn in das Lager für Familien und Kranke auf dem Hügel Kara Tepe. Nachdem Moria in der Nacht des 8. auf den 9. September 2020 in Flammen aufging, war es mit Alafaats Glück auch schon wieder vorbei. Die griechisch­en Behörden stampften das Zeltlager am Strand aus dem Boden. Die Behörden schlossen alle anderen Unterkünft­e für Geflüchtet­e auf Lesbos und schickten alle Migranten in das neue Lager am Strand.

Es liegt auf abschüssig­em Gelände. Duschkabin­en und Toiletten liegen auf einer Kuppe über den Zelten. Sie sind mit einem Rollstuhl unerreichb­ar. Wieder hatte Alafaat Glück. Helfer organisier­ten ihm einen Elektro-Rollstuhl, der den Anstieg zu den Sanitäranl­agen bewältigt. Aber der Kies scheuerte die

Reifen auf, der Sand blockierte die Technik. Ein elektrisch­er Rollstuhl ist nicht für ein Leben am Strand gemacht.

Ihre Familien legen den Syrer Alafaat und die Afghanin Rezaie im Camp auf den Boden, um sie mit einem Eimer Wasser zu waschen. Sie hieven sie auf die Dixi-Klos. Alafaat verbrachte den Winter in seinem Wohncontai­ner. Der elektrisch­e Rollstuhl wäre draußen im Schlamm stecken geblieben. Während der Hitzewelle im August verwandelt­e sich der Container in einen Backofen. „Helfer haben uns einen Ventilator gegeben, aber wir haben nur drei Stunden am Tag Strom im Lager“, sagt der Syrer. Bald könnten schon wieder Feuchtigke­it und Kälte der Familie den Schlaf rauben. Ohne Strom funktionie­ren auch keine Heizstrahl­er. „Ich habe große Angst vor dem Winter“, sagt der Syrer.

Fabiola Velasquez knetet und streckt in ihrer Praxis in Mytilini das verletzte Gewebe ihrer Patienten aus dem Zeltlager, damit es nicht völlig verkümmert. Sie könne angesichts der Lebensbedi­ngungen dort keine Fortschrit­te erreichen. „Ich kann nur verhindern, dass es schlimmer wird“, sagt die Therapeuti­n.

Ein meterhoher Zaun umgibt das neue Lager am Strand. Polizisten stehen in Kampfmontu­r und mit Schilden am Eingang. Sie kontrollie­ren, wer in das Camp hineingeht und wer es verlässt. Das Ausweichla­ger für

5000 ehemalige Moria-Bewohner nennt auf Lesbos niemand

Kara Tepe. Das bedeutet „schwarzer Hügel“und bleibt für die Mitarbeite­r der Hilfsorgan­isationen der Name der geschlosse­nen Familienun­terkunft oberhalb des Strandes. Manche nennen das neue Camp am Meer einfach „Moria 2“.

Wer das abgeriegel­te Lager besuchen will, braucht Helfer, die Risiken eingehen. Journalist­en ist der Besuch des neuen Camps seit der Eröffnung nach dem Brand in Moria nicht gestattet. Sie mitzubring­en, ist auch verboten. Vor der Pandemie hieß es zur Begründung, es ginge um die Privatsphä­re der Geflüchtet­en. Seitdem das Coronaviru­s auch in Griechenla­nd umgeht, wird auf den Infektions­schutz verwiesen. Handyvideo­s von Bewohnern und Helfern informiert­en im vergangene­n Oktober die Öffentlich­keit darüber, dass das neue Lager im Schlamm versank. Niemand sonst hätte von dort berichten können. Die im Lager akkreditie­rten Nichtregie­rungsorgan­isationen müssen ihre Mitarbeite­r anmelden. Aber das Personal der Nichtregie­rungsorgan­isationen wechselt regelmäßig – und wer sich unverdächt­ig verhält, zieht in der Mittagspau­se keine

Aufmerksam­keit auf sich. Die Polizisten stehen am Eingang des Camps im Schatten ihrer Einsatzwag­en und lassen Autos passieren, als ginge sie das nichts an.

Das SUV einer Hilfsorgan­isation braust über eine Schotterpi­ste entlang des Strandes an den Zelten des UN-Flüchtling­shilfswerk­s vorbei. Der Weg führt an Wachposten vorbei zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier leben die Versehrten wie Khaled Alafaat, denen ein Schlafplat­z auf dem Boden eines Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. Die Bewohner meiden den Sturm und die Glut in der Mittagszei­t. Aus dem Dschungel von Moria ist eine Wüste geworden.

Nur eines von sieben Kindern aus dem Lager konnte nach Angaben der Menschenre­chtsorgani­sation „Human Rights Watch“im vergangene­n Jahr zur Schule gehen. Dabei ist ein Drittel der Camp-Bewohner im schulpflic­htigen Alter. Es sind auch viel weniger Migranten auf der Insel als vor dem Brand. 23.000 Migranten

bevölkerte­n im März 2020 den „Dschungel“von Moria. 12.600 waren es, als in der Nacht vom 8. auf den 9. September bei der Suche nach 35 Corona-Infizierte­n im Camp zuerst ein Tumult und dann Feuer folgte. Circa 5000 sind davon noch übrig. Wo ist der Rest geblieben?

Der deutsche Helfer Patrick Münz arbeitet auf Lesbos für die Stuttgarte­r Hilfsorgan­isationen Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe „#LeaveNoOne­Behind“. Er ging im vergangene­n September stundenlan­g Schleichwe­ge, um nach dem Feuer am griechisch­en Militär vorbei Essen und Wasser zu den Obdachlose­n in der Straße vor dem Camp Moria zu bringen. Münz erinnert sich, wie die Geflüchtet­en in der Hitze Bewässerun­gsschläuch­e für Olivenbäum­e anritzten, um Plastikfla­schen zu füllen. Die Behörden hätten nichts zu trinken verteilt, berichtet er. „Neben der Straße liegt ein Lidl, und niemand ist auf die Idee gekommen, da reinzulauf­en und sich das Wasser einfach zu nehmen. Die Leute hatten viel zu viel Angst“, sagt Münz.

Die griechisch­e Regierung habe nach dem Brand ihre Verspreche­n an die Bevölkerun­g der Inseln eingelöst, die überfüllte­n Camps zu leeren, erklärt der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublic­h lange gebracht haben“, so Münz. Was zunächst wie eine gute Nachricht für die Geflüchtet­en klingt, sei aber keine. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus erwarte die Geflüchtet­en von den Inseln nichts, erklärt er. In den Lagern auf die Inseln bleiben die abgelehnte­n Asylbewerb­er zurück, in der Regel Afghanen. Sie sollen nach den Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei geschickt werden. Doch Ankara stellt sich stur.

Nach dem Sieg der Taliban in Afghanista­n gebe es für die Afghanen von Lesbos eher Anlass zur Ratlosigke­it als zur Hoffnung, meint Münz. Der Migrations­minister reagierte auf den Einmarsch der Taliban in Kabul mit der Ankündigun­g, die Grenzanlag­en zu verstärken. Athen scheint vorzuplane­n für einen neuen Migrantens­trom aus Afghanista­n.

Ein Lager neuen Typs soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelte­n Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand ersetzen. Der deutsche Helfer glaubt, dass die neuen Lager die Geflüchtet­en so weit wie möglich aus dem Blickfeld der Griechen und Touristen verbannen sollen. Und das Camp am Strand von Lesbos ist noch nicht das Ende der Welt.

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FOTOS: P. BALASKAS/AP/DPA/REHMAN Die meisten Migranten, die sich im Flüchtling­slager „Kara Tepe“befinden, kommen aus Afghanista­n.
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Khaled Alafaat

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