Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Sind wir über den Berg?
Die vierte Welle der Corona-Pandemie schlug besonders in Nordrhein-Westfalen zu. Seit mehr als einer Woche gehen die Infektionszahlen wieder zurück. Doch Vorsicht ist angebracht, die Kliniken ächzen unter der Last.
Die rote Laterne mit den meisten Corona-Infektionsfällen hat Nordrhein-Westfalen seit Montag an die beiden Bundesländer Bremen (Inzidenz 122) und Hessen (110) abgegeben. Zwischen Rhein und Weser liegt die Zahl der wöchentlichen Ansteckungen pro 100.000 Einwohnern, die sogenannte Inzidenz, inzwischen bei 108. Sie war schon mal bedeutend höher. Am 27. August schnellte der Wert auf 132 hoch. Seitdem geht es stetig bergab – auch in Städten wie Köln, Bonn oder Aachen. Selbst die CoronaHochburgen Düsseldorf (133) und Wuppertal (208) melden inzwischen leicht abnehmende Fallzahlen.
Die statistische Entspannung ist auch der Landesregierung aufgefallen. „Auch wenn das Infektionsgeschehen noch nicht als vollständig stabil zu bezeichnen ist, gibt die aktuelle Entwicklung zumindest keinen Anlass, den Weg der verantwortlichen Normalisierung, den NRW gegangen ist, zu verlassen“, meint ein Sprecher des Landesgesundheitsministeriums. Misst man den Wert, wie viele infizierte Menschen andere anstecken, den sogenannten Reproduktionsfaktor (R-Wert), so liegt der in NordrheinWestfalen – anders als im Bundesschnitt – ebenfalls unter eins. Das heißt, 100 Infizierte geben das Virus nur an 98 andere weiter. Damit wird ein beschleunigtes Wachstum der Fallzahlen vermieden. Sie gehen stattdessen nach unten. Bundesweit liegt der R-Wert bei 1,02. Das bedeutet, dass 100 betroffene Personen 102 weitere anstecken. Hier geht es also weiter leicht nach oben, aber sehr gemäßigt.
Den Rückgang der Fallzahlen führt die Landesregierung auf die umfangreiche Testpflicht für Reiseheimkehrer zurück, die NRW als einziges Bundesland
verpflichtend am Arbeitsplatz eingeführt hat und die allenthalben gelobt wird. Auch die Schul-Testungen hätten Ansteckungen aufgedeckt, die sonst verborgen geblieben wären. Damit lässt sich laut NRW-Gesundheitsministerium zum einen die hohe Zahl der Ansteckungen erklären. Zum anderen hätte die sich anschließende Quarantäne für infizierte Personen weitere Ansteckungen verhindert. Unterstützung erhält diese Sicht vom Mathematiker und Simulationsrechner Jan Fuhrmann von der Universität Heidelberg. „Während viele Fälle unter Reiserückkehrern, die besonders intensiv getestet wurden, die Inzidenz zunächst in die Höhe getrieben haben dürften, fällt dieser Effekt seit Schulbeginn weitgehend weg“, meint der Corona-Forscher. Fuhrmann vermutet noch einen anderen Effekt. Durch die hohe Zahl der Geimpften und Genesenen sei „die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ansteckung unentdeckt bleibt, vergleichsweise hoch“. Das dürfte, so Fuhrmann, einen zunehmenden Teil der Ansteckungen im Verborgenen lassen. Der Effekt sei umso stärker, je höher vorher die Fallzahlen waren.
Allerdings darf der Rückgang der Inzidenzen nicht als Überwindung der Pandemie missverstanden werden. In den meisten Simulationsrechnungen gehen die Fallzahlen spätestens im Lauf des Herbstes wieder nach oben. Das zeigt auch das Beispiel Großbritannien, wo die Inzidenz inzwischen wieder bei 365 liegt, nachdem sie lange Zeit gefallen war. Nach dem Covid-Rechner der Universität Saarbrücken kann die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen schon bei kleineren Zunahmen ab Oktober (Beschleunigung um vier Prozent) theoretisch bei 1200 am Ende des Monats liegen, wenn nichts zur ihrer Eindämmung passiert. Dann droht spätestens eine Überlastung der Krankenhäuser.
Schon jetzt macht die wachsende Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 den Kliniken zu schaffen. In der Uniklinik Essen liegt die Zahl der Kranken mit schweren Symptomen bei 23. Davon sind 20 ungeimpft, der jüngste Patient ist gerade einmal 20 Jahre alt. „Wir machen uns langsam das Gesundheitssystem kaputt“, meint deshalb der Direktor der Virologie in der Uniklinik, Ulf Dittmer. Die Kräfte in den Intensivstationen kämen angesichts der steigenden Fallzahlen wieder an ihre Grenze. „Seit anderthalb Jahren sind die Pflegerinnen und Pfleger diesem Stress ausgesetzt. Viele Kräfte bitten bereits um die Versetzung in andere Stationen“, sagt Dittmer.
Auch der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende der Uniklinik Köln, Edgar Schömig, warnt vor einer Überlastung der Krankenhäuser. Nur etwa jeder zehnte Covid-Patient, der derzeit aufgenommen würde, sei geimpft, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Relation ist also ähnlich wie in Essen. Der Virologe Dittmer vermutet vergleichbare Größenordnungen auch in anderen Kliniken.
Wer doppelt geimpft ist, muss sich keine großen Gedanken machen über einen schweren Verlauf der Krankheit – womöglich verbunden mit einem Krankenhausaufenthalt. Die geimpften Covid-Patienten im Krankenhaus sind fast ausschließlich Menschen, deren Immunsystem etwa durch eine Organtransplantation oder wegen Blutkrebs ohnehin stark geschwächt ist. „Die haben dann leider trotz Impfung keinen ausreichenden Schutz“, sagt der Essener Chef-Virologe.
Allerdings geht Klinik-Professor Dittmer nicht davon aus, dass der zuletzt etwas günstigere Trend bei den Fallzahlen in NRW sich dauerhaft verändert. Schon die bestehende Impfquote von 61,4 Prozent sowie die hohe Zahl der Genesenen macht es dem Virus in Deutschland inzwischen deutlich schwerer, neue Wirte zu finden. „Das könnte ein Grund sein, weswegen die Neuinfektionszahlen in NRW stagnieren oder leicht sinken“, vermutet Dittmer. Und bei höheren Zahlen wie von manchen Epidemiologen befürchtet, würden die Maßnahmen für Ungeimpfte wieder strenger. Dittmer vermutet deshalb, dass die Zahl der wöchentlichen Neufälle pro 100.000 Einwohner kaum die Größe von 100 im Herbst überschreiten. Eine weitere Forcierung der Impfkampagne könnte die Werte sogar noch weiter absenken.
„Wir machen uns langsam das Gesundheitssystem kaputt“
Ulf Dittmer Chef-Virologe an der Uniklinik Essen