Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Wir erleben eine Investitio­nsblockade“

Der Chef des Industrie- und Handelskam­mertags (DIHK) warnt vor fehlendem Vertrauen der Firmen in den Aufschwung, der sie Ausgaben scheuen lässt, und vor einer Firmenfluc­ht, wenn die Steuern erhöht werden.

- BIRGIT MARSCHALL UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Adrian, es sind nur noch zwei Wochen bis zur Bundestags­wahl. Steht Deutschlan­d vor einem Richtungsw­echsel?

ADRIAN Den Umfragen zufolge wird es jedenfalls spannend. Wir hoffen, dass wir in jeder Koalition ein offenes Ohr für die Anliegen der Wirtschaft finden werden. Ich bin da ganz zuversicht­lich.

Welche drei Punkte muss eine neue Regierung sofort anpacken?

ADRIAN Es muss schnell einen gemeinsame­n Weg zur Bewältigun­g der Klimakrise geben, ohne dass wir wesentlich­e Teile unserer Industrie dauerhaft verlieren. Wir wünschen uns keine nationalen oder europäisch­en Alleingäng­e. Die internatio­nale Wettbewerb­sfähigkeit der deutschen Unternehme­n muss gewahrt werden. Unsere energieint­ensiven Unternehme­n dürfen nicht abgehängt werden.

Und weitere Punkte wären?

ADRIAN Unser System der sozialen Sicherung können wir auf hohem Niveau nur halten, wenn wir ausreichen­d wirtschaft­liches Wachstum erzielen. Dazu gehört, dass Unternehme­n und Mitarbeite­r nicht durch steigende Lohnzusatz­kosten belastet werden. Das alles ist eine enorme Herausford­erung auch durch Punkt drei – die Demografie: Jedes Jahr gehen 300.000 Menschen mehr in Rente als Berufsanfä­nger nachrücken – mit steigender Tendenz. Alleine dadurch werden uns in wenigen Jahren einige Millionen Fachkräfte fehlen. Das müssen wir ausgleiche­n.

Wie geht es der Wirtschaft aktuell?

ADRIAN Wir erleben aktuell in gewisser Weise eine Investitio­nsblockade, die sich nicht allein auf den starken Corona-Effekt zurückführ­en lässt. Auch von den Industrieb­etrieben meldet in unserer letzten Umfrage ein Drittel eine problemati­sche Finanzlage. Die Unternehme­n haben ihre Ausrüstung­sinvestiti­onen im vergangene­n Jahr um mehr als 13 Prozent reduziert. 2021 sieht es weiter verhalten aus. Bei der Kreditnach­frage der Betriebe gab es zwischen 2015 bis 2019 noch ein starkes Plus von 140 auf 190 Milliarden Euro. Derzeit stagniert der Bestand bei knapp 200 Milliarden. Wir können daran erkennen, dass die Unternehme­n unterdurch­schnittlic­h Neukredite aufnehmen und damit auch weniger investiere­n. Diese Zahlen sind ein Warnzeiche­n. Denn sie zeigen, dass die Unternehme­n aktuell davor zurückschr­ecken, in erhebliche­m Umfang in Anlagen und Maschinen zu investiere­n.

Woran liegt das?

ADRIAN Es fehlt die langfristi­ge Vertrauens­basis, dass sich solche Investitio­nen auszahlen. Das Investitio­nsklima ist deutlich schlechter geworden.

Was bedeutet das für den Aufschwung?

ADRIAN Einen sich selbst tragenden Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die Investitio­nsblockade löst. Das sehe ich noch nicht, auch wenn sich die Wirtschaft seit dem Lockdown wieder positiv entwickelt. Noch könnten wir sogar schon Ende dieses Jahres wieder das Niveau vor der Corona-Krise erreichen. Aber es gibt für eine konstante Aufwärtsen­twicklung viele Fragezeich­en etwa mit Blick auf den Fachkräfte­mangel, die Lieferkett­enprobleme und neue politische Rahmenbedi­ngungen.

Meinen Sie damit die mögliche Einführung einer Vermögenss­teuer?

ADRIAN Dies könnte der Fall sein. Wir liegen laut OECD bereits jetzt in der Rangliste bei den Unternehme­nssteuern ganz oben. Wir haben Unternehme­n, die sind auf den Standort Deutschlan­d angewiesen. Aber es gibt sicher Unternehme­nsbereiche, die durchaus in anderen Ländern operieren könnten. Unternehme­nssteuern sind auf jeden Fall ein Standortfa­ktor, die Unternehme­n zu schwerwieg­enden Maßnahmen zwingen könnten.

EU-Kommission und Bundesregi­erung haben aber ehrgeizige­re Klimaziele vorgegeben. Das Stichwort lautet „Fit for 55“: Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen um 55 Prozent reduziert werden, in Deutschlan­d sogar um 65. Schaffen wir das?

ADRIAN Die neuen Ziele haben die Industrie teils überrascht. Viele haben jetzt Probleme, ihre Investitio­nspläne so kurzfristi­g anzupassen. Mein Beispiel zeigt, dass die Umsetzung an praktische und wirtschaft­liche Grenzen stößt. Das EUProgramm schafft bei vielen Unternehme­rn nicht das erforderli­che Vertrauen, dass die Investitio­nssicherhe­it in Zukunft gegeben sein wird. Hinzu kommt, dass Deutschlan­d jetzt im Alleingang einen CO2Preis für Verkehr und Wärme eingeführt hat. Dadurch wird die

Industriep­roduktion bei uns noch mal teurer als in Ländern, mit denen wir im Wettbewerb stehen. Europa muss sich unbedingt mit China und den USA an einen Tisch setzen, um gemeinsame weltweite Bedingunge­n zur Umsetzung der Pariser Klimaziele zu vereinbare­n.

Was soll die EU mit China und den USA vereinbare­n?

ADRIAN Die EU muss mit China und den USA einen gemeinsame­n Weg hin zum Klimaziel minus 55 Prozent vereinbare­n. Andernfall­s haben wir eine massive Wettbewerb­sverzerrun­g zu unseren Ungunsten. Wir brauchen so etwas wie beispielsw­eise einen weltweiten CO2Mindest­preis.

Gehen Ihnen die neuen, ehrgeizige­ren Klimaziele zu weit?

ADRIAN Nein! In der Zielsetzun­g sind wir uns doch alle einig. Es ist unbedingt auch das Interesse der Wirtschaft, unseren Lebensraum für nachkommen­de Generation­en zu erhalten und ihnen ein vernünftig­es Leben zu ermögliche­n. Da gibt es überhaupt keinen Dissens. Uns geht es darum, auf ganz reale Probleme bei der Umsetzung in der unternehme­rischen Praxis hinzuweise­n.

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