Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
München leuchtet
Die bayerische Kunstmetropole bietet sich derzeit ganz besonders für einen Spaziergang durch die aktuellen Kunst-Ausstellungen an. Gestartet wird durch einen Wasservorhang.
Wie durch Geisterhand öffnet sich der Vorhang aus Wasser. Wir tasten uns trockenen Fußes in den kreisförmigen Brunnen, und während wir unseren Sinnen nicht trauen, schließt sich der Wasservorhang – und wir blicken staunend durch den aufschießenden Wasserschleier hinaus auf den Münchner Königsplatz und den Kunsttempel: Vor dem Lenbachhaus treibt Jeppe Hein mit der Installation „Space in Action/Action in Space“ein erfrischendes Spiel mit Raumgefühl und Wahrnehmung.
Wer das Kunstwerk am eigenen Leib erfahren will, nähert sich zügig dem Wasserfall und löst, ohne es recht zu merken, mit den Füßen eine versteckte Lichtschranke aus: Der Wasservorhang sackt sanft in sich zusammen, lädt uns ein, Teil des Spiels zu werden, das wir jederzeit aktiv beeinflussen und kreativ verändern können: Der perfekte Start für einen Spaziergang durch die aktuelle Ausstellungen in der bayerischen Kunstmetropole.
München leuchtet. Der bei Thomas Mann ausgeborgte Satz ist oft herbeizitiert worden. Aber in diesem sonnendurchfluteten Sommer, den Wochen zwischen zwei PandemieWellen, die uns ein wenig Freiheit schnuppern lassen und einige zu gefährlichem Übermut verleiten, könnte wohl keine Metapher die Stimmung besser ausdrücken.
Wer nicht im Englischen Garten flanieren oder am Strand der Isar faulenzen will, kann die Kunstsinne wieder schärfen und abenteuerliche Entdeckungen machen. Gleich hinter Jeppe Heins Brunnen vor dem Tore öffnet das Lenbachhaus seine Pforten der Wahrnehmung für eine Reise durch die Kunstgeschichte: Mit Gabriele Münter und Wassily Kandinsky wohnen wir „Unter freiem Himmel“, erleben die intensive Beziehung von zwei Wahlverwandten, die ein Stück ihres künstlerischen Weges gemeinsam zurücklegten und zwischen 1902 und 1908 mit leichtem Gepäck unterwegs waren.
Ob in Murnau und Kallmünz, Rotterdam und Tunis, Rapallo und Paris: Immer hatten sie ihre Fotoapparate und Farben dabei, zeichneten, malten, drückten auf den Auslöser. Eindrücklich ist zu sehen, wie beim Anblick gleicher Motive Farbverständnis, Licht- und Raumkomposition ineinander verschwimmen, man kaum sagen kann, wer welches Werk geschaffen hat. Die nach Freiheit und Gleichheit strebenden Münter und Kandinsky waren auch die federführenden Köpfe, um sich vom etablierten Kunstbetrieb
loszusagen: Unter dem Stichwort „Gruppendynamik“wird das Werden, wird die Wirkung der legendären Vereinigung rekonstruiert, werden ihre Ideen und Werke dargestellt. Arbeiten von August Macke und Franz Marc, Elisabeth Epstein und Maria Franck-Marc, Arnold Schönberg und Paul Klee, Robert Delauny, Wladimir Burljuk, Henri Rousseau: ein Kompendium epochenund gattungsüberschreitenden Kunstschaffens.
Wer „Die Sonne um Mitternacht schauen“und intensive Gegenwartskunst erleben will, muss nur die nächsten Räume betreten und wird mit dem radikal-feministischen Blick auf die von Männern geprägte und verunstaltete (Kunst-) Welt konfrontiert: Eine verstörende großformatige Malerei von Maria Lassnig, Fotografien, Videos und
Performances von Friederike Petzold und Cindy Sherman, Tejal Shah und Flak Haliti, Isa Genzken und Monica Bonvicini. Es geht um Geschlechts-Identität und Sexualität, Sprachhoheit und Machtausübung. Schmerzlich-aktuelle Themen, die auch im Münchner Haus der Kunst eine Rolle spielen: Die Gruppenausstellung „Sweat“umkreist Formen der körperlichen Gewalt und des Widerstands. Tanz und Film, Fotografie und Malerei im Dialog über Unterdrückung und Ausbeutung: Schweißbrüche des erniedrigten Menschen. „We Are In Hell When We Hurt Each Other“, heißt die von bizarren Mutanten und absurden Fantasien begleitete filmisch-musikalische Reise in die dunkle Hölle der Gewalt, aus der es für Jacolby Satterwhite nur einen Ausweg gibt: Toleranz und Transparenz, Gleichheit
und Gemeinsamkeit. Eigentlich ganz einfach.
Was wohl die Preisträger des „Euward8“(European Award für Malerei und Grafik) dazu sagen würden? Beworben haben sich 341 Künstler aus 22 Ländern. Gewonnen haben Andreas Maus, Felix Brenner und Kar Hang Mui. Ein schöne Geste ist, dass im Haus der Kunst nicht nur die Bilder, Zeichnungen und Videos der Gewinner, sondern auch einige Werke der im Wettstreit unterlegenen Künstler gezeigt werden.
Und wie steht es mit Joseph Beuys? Wo (fast) jedes Museum, das etwas auf sich hält, dem Erfinder der sozialen Plastik zum 100. Geburtstag eine Extra-Schau widmet, darf natürlich auch die Pinakothek der Moderne nicht zurückstehen: „Ich strahle aus“ist der Titel des Projekts, das den Beuys-Spruch wörtlich nimmt, in die ganze Stadt ausstrahlt und an vielen Orten Münchens zu erfahren ist.
Klein, aber fein ist die Sicht auf einige Werke von Beuys im Lenbachhaus: „Zeige deine Wunde“heißt die Schau von ikonografischen Environments und Plastiken, die sich an der Forderung von Beuys orientiert.
Apropos „Wunde“: Dass die Neue Pinakothek noch immer aufwendig restauriert wird, ist schmerzlich. Einige ihrer schönsten Werke haben temporär in der Alten Pinakothek und in der Sammlung Schack Zuflucht und Unterschlupf gefunden. Gestern und heute, friedlich vereint: Kunst kann das.