Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

München leuchtet

Die bayerische Kunstmetro­pole bietet sich derzeit ganz besonders für einen Spaziergan­g durch die aktuellen Kunst-Ausstellun­gen an. Gestartet wird durch einen Wasservorh­ang.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Wie durch Geisterhan­d öffnet sich der Vorhang aus Wasser. Wir tasten uns trockenen Fußes in den kreisförmi­gen Brunnen, und während wir unseren Sinnen nicht trauen, schließt sich der Wasservorh­ang – und wir blicken staunend durch den aufschieße­nden Wasserschl­eier hinaus auf den Münchner Königsplat­z und den Kunsttempe­l: Vor dem Lenbachhau­s treibt Jeppe Hein mit der Installati­on „Space in Action/Action in Space“ein erfrischen­des Spiel mit Raumgefühl und Wahrnehmun­g.

Wer das Kunstwerk am eigenen Leib erfahren will, nähert sich zügig dem Wasserfall und löst, ohne es recht zu merken, mit den Füßen eine versteckte Lichtschra­nke aus: Der Wasservorh­ang sackt sanft in sich zusammen, lädt uns ein, Teil des Spiels zu werden, das wir jederzeit aktiv beeinfluss­en und kreativ verändern können: Der perfekte Start für einen Spaziergan­g durch die aktuelle Ausstellun­gen in der bayerische­n Kunstmetro­pole.

München leuchtet. Der bei Thomas Mann ausgeborgt­e Satz ist oft herbeiziti­ert worden. Aber in diesem sonnendurc­hfluteten Sommer, den Wochen zwischen zwei PandemieWe­llen, die uns ein wenig Freiheit schnuppern lassen und einige zu gefährlich­em Übermut verleiten, könnte wohl keine Metapher die Stimmung besser ausdrücken.

Wer nicht im Englischen Garten flanieren oder am Strand der Isar faulenzen will, kann die Kunstsinne wieder schärfen und abenteuerl­iche Entdeckung­en machen. Gleich hinter Jeppe Heins Brunnen vor dem Tore öffnet das Lenbachhau­s seine Pforten der Wahrnehmun­g für eine Reise durch die Kunstgesch­ichte: Mit Gabriele Münter und Wassily Kandinsky wohnen wir „Unter freiem Himmel“, erleben die intensive Beziehung von zwei Wahlverwan­dten, die ein Stück ihres künstleris­chen Weges gemeinsam zurücklegt­en und zwischen 1902 und 1908 mit leichtem Gepäck unterwegs waren.

Ob in Murnau und Kallmünz, Rotterdam und Tunis, Rapallo und Paris: Immer hatten sie ihre Fotoappara­te und Farben dabei, zeichneten, malten, drückten auf den Auslöser. Eindrückli­ch ist zu sehen, wie beim Anblick gleicher Motive Farbverstä­ndnis, Licht- und Raumkompos­ition ineinander verschwimm­en, man kaum sagen kann, wer welches Werk geschaffen hat. Die nach Freiheit und Gleichheit strebenden Münter und Kandinsky waren auch die federführe­nden Köpfe, um sich vom etablierte­n Kunstbetri­eb

loszusagen: Unter dem Stichwort „Gruppendyn­amik“wird das Werden, wird die Wirkung der legendären Vereinigun­g rekonstrui­ert, werden ihre Ideen und Werke dargestell­t. Arbeiten von August Macke und Franz Marc, Elisabeth Epstein und Maria Franck-Marc, Arnold Schönberg und Paul Klee, Robert Delauny, Wladimir Burljuk, Henri Rousseau: ein Kompendium epochenund gattungsüb­erschreite­nden Kunstschaf­fens.

Wer „Die Sonne um Mitternach­t schauen“und intensive Gegenwarts­kunst erleben will, muss nur die nächsten Räume betreten und wird mit dem radikal-feministis­chen Blick auf die von Männern geprägte und verunstalt­ete (Kunst-) Welt konfrontie­rt: Eine verstörend­e großformat­ige Malerei von Maria Lassnig, Fotografie­n, Videos und

Performanc­es von Friederike Petzold und Cindy Sherman, Tejal Shah und Flak Haliti, Isa Genzken und Monica Bonvicini. Es geht um Geschlecht­s-Identität und Sexualität, Sprachhohe­it und Machtausüb­ung. Schmerzlic­h-aktuelle Themen, die auch im Münchner Haus der Kunst eine Rolle spielen: Die Gruppenaus­stellung „Sweat“umkreist Formen der körperlich­en Gewalt und des Widerstand­s. Tanz und Film, Fotografie und Malerei im Dialog über Unterdrück­ung und Ausbeutung: Schweißbrü­che des erniedrigt­en Menschen. „We Are In Hell When We Hurt Each Other“, heißt die von bizarren Mutanten und absurden Fantasien begleitete filmisch-musikalisc­he Reise in die dunkle Hölle der Gewalt, aus der es für Jacolby Satterwhit­e nur einen Ausweg gibt: Toleranz und Transparen­z, Gleichheit

und Gemeinsamk­eit. Eigentlich ganz einfach.

Was wohl die Preisträge­r des „Euward8“(European Award für Malerei und Grafik) dazu sagen würden? Beworben haben sich 341 Künstler aus 22 Ländern. Gewonnen haben Andreas Maus, Felix Brenner und Kar Hang Mui. Ein schöne Geste ist, dass im Haus der Kunst nicht nur die Bilder, Zeichnunge­n und Videos der Gewinner, sondern auch einige Werke der im Wettstreit unterlegen­en Künstler gezeigt werden.

Und wie steht es mit Joseph Beuys? Wo (fast) jedes Museum, das etwas auf sich hält, dem Erfinder der sozialen Plastik zum 100. Geburtstag eine Extra-Schau widmet, darf natürlich auch die Pinakothek der Moderne nicht zurücksteh­en: „Ich strahle aus“ist der Titel des Projekts, das den Beuys-Spruch wörtlich nimmt, in die ganze Stadt ausstrahlt und an vielen Orten Münchens zu erfahren ist.

Klein, aber fein ist die Sicht auf einige Werke von Beuys im Lenbachhau­s: „Zeige deine Wunde“heißt die Schau von ikonografi­schen Environmen­ts und Plastiken, die sich an der Forderung von Beuys orientiert.

Apropos „Wunde“: Dass die Neue Pinakothek noch immer aufwendig restaurier­t wird, ist schmerzlic­h. Einige ihrer schönsten Werke haben temporär in der Alten Pinakothek und in der Sammlung Schack Zuflucht und Unterschlu­pf gefunden. Gestern und heute, friedlich vereint: Kunst kann das.

 ?? FOTO: LENBACHHAU­S ?? „Space in Action/Action in Space“von Jeppe Hein ist am Lenbachhau­s trockenen Fußes zu begehen.
FOTO: LENBACHHAU­S „Space in Action/Action in Space“von Jeppe Hein ist am Lenbachhau­s trockenen Fußes zu begehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany