Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Grünkonservativ
Zweckbündnis oder neue Strömung? In Nordrhein-Westfalen stehen die Zeichen auf Schwarz-Grün. Das dazu passende soziale Milieu gibt es schon länger. Doch bringt die neue Allianz auch Gefahren mit sich.
Manchmal ist der Wähler schon zwei Schritte weiter als die Politik. Das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen führt nun jedenfalls zwei politische Lager zueinander, die in vielen Punkten höchst unterschiedlich gestimmt sind. Doch übt die Option Schwarz-Grün schon länger eine Faszination aus, vielleicht weil sie vereint, was manche für einzig zukunftsträchtig halten: Wirtschaftsdenken und ökologische Verantwortung, Wertebeständigkeit und Umweltverpflichtung, Leistungseinstellung und Aufbruchsenergie. Man könnte auch sagen: den Willen zum Wandel, um zu bewahren. Man kann das als grünen Slogan lesen. Oder als zeitgemäße Definition von Konservatismus.
Natürlich gibt es in der praktischen Politik genug, was Anhänger der Union und grüne Basis trennt. Da muss man gar nicht drastische Beispiele wie den Hambacher Forst bemühen, wo Prinzipien wie Vertragstreue und Eigentumsrecht auf entschiedenes Eintreten für die Natur stoßen. Beide Lager sind ausdifferenzierter als die Labels, die sie bedienen. Und konservative Prinzipien wie Maß und Mitte zu halten, auf den langen Atem der Geschichte zu bauen und im Staat vor allem den Hüter der Ordnung zu sehen, passen oft nicht zu grünem Drängen auf staatlich geförderte Veränderung, auf radikale Alternativen und Umdenken aus Sorge vor Katastrophen. Und natürlich konkurrieren beide Parteien in allen Politikfeldern. Gerade wenn es konkret etwa um sozialen Wohnungsbau, Schulsystem, Absicherung armer Menschen oder Steuern geht, gibt es große Differenzen.
Trotzdem passt da etwas. Das zeigte sich etwa in der Reaktion vieler Wirtschaftsvertreter auf die Zugewinne der Grünen am Sonntag. Da war nicht mehr von Angst vor grüner Regelwut und der Abschreckung von Investoren die Rede. Vielmehr gab es Anerkennung. Die Energiewende, ein grünes Anliegen von Beginn an, ist gerade das brennendste Thema für viele Unternehmen. Aktuelle Krisen haben für Annäherung gesorgt. Auf Bundesebene verköpert das der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck. Er gehört zu den beliebtesten Politikern der Republik.
Außerdem ist ein ökologischer Lebensstil – oder einer, der sich dafür ausgibt – genauso im Mainstream angekommen wie BioSupermärkte in den deutschen Fußgängerzonen. Längst bestellen FreieFahrt-für-freie-Bürger-Typen Elektroautos, schrauben sich Fotovoltaik aufs Dach und legen einen Veggietag ein. Und natürlich gibt es eine grüne Klientel, die Retro-Kinderwagen genauso schick findet wie Familie Wüst und froh ist, dass das mittelständische Unternehmertum in der deutschen Provinz die Wirtschaft am Laufen hält. Gern mit nachhaltigen Produkten. SchwarzGrün, das ist auf jeden Fall ein RealoProjekt – für beide Seiten.
Damit ist es auch ein Projekt der gesellschaftlichen Mitte. Das ist gut für Mehrheiten. Doch zugleich beschert es den Partnern Profilierungsschwierigkeiten und lässt Positionen an den Rändern der Parteien unbesetzt. Das ist ein schwerwiegendes Problem für das demokratische System. Denn es sorgt dafür, dass sich Menschen mit radikaleren Positionen oder Menschen, deren Lebenswirklichkeit wenig mit dem liberal-konservativ-grünen Milieu zu tun hat, sich nicht mehr repräsentiert fühlen, links wie rechts.
Das äußert sich allerdings oft erst einmal gar nicht und wird darum leicht übersehen, wenn sich neue Allianzen finden und die Aufbruchseuphorie groß ist. Das Repräsentationsdefizit tritt aber zutage, wenn Anlässe wie die Pandemie Menschen doch auf die Straße
treiben und sie dort nicht nur Thesen äußern, die zeigen, wie sehr sich der Umgang mit Medien gewandelt hat. Wie zersplittert die Öffentlichkeit ist, wie abgeschottet voneinander die sozialen Milieus. In Protesten, die sonst eher Unbeteiligte auf die Straße bringen, kommt auch der Verdruss an Politik generell zum Ausdruck. Der Vertrauensverlust. Manchmal auch blanker Hass.
Die Demos gegen die Corona-Politik haben das vor Augen geführt. Sie haben viele erschreckt, die Deutschland weit entfernt wähnten von Verhältnissen wie in Großbritannien oder gar den USA, wo die breite Abwendung von Politik extreme politische Konsequenzen gezeitigt hat. Doch hat das Erschrecken bei den politischen Akteuren jedenfalls nicht dazu geführt, dass sie ihre Mittelkurse aufgeben und ihr Heil in der Profilierung suchen. Dabei zeigt die bestürzend niedrige Wahlbeteiligung in NRW von 55,5 Prozent, dass es eine satte Mehrheit gibt, die nicht mal mehr protestwählen geht. Die Nichtwähler hätten die Wahl gewonnen, heißt es dann. Die Demokratie hat sie jedenfalls verloren.
Derweil formieren sich in der Mitte also neue Milieus, alte Gräben verwehen, neue Differenzen zeichnen sich ab – quer zu den traditionellen Parteilinien. Etwa die zwischen Immobilienbesitzern und Mietern, Erben und Nichterben, digitalen Netzwerkern und Fake-News-Driftern, Anywheres und Somewheres. Es wird für neue Parteienbündnisse auch darauf ankommen, diese Bewegungen zu spiegeln, ihre Fragen aufzugreifen, Antworten zu bieten. Und keine Gruppe abzuschreiben.
Auch wird die Zukunft neue Fragen dringlich machen. Überparteilich und vermutlich unerbittlicher als in vergangenen Jahrzehnten. Etwa die nach Verzicht. Zugleich habe sich in der Öffentlichkeit eine fatale Abwehr gegen Transformation und Einschränkungen entwickelt, schreibt der Berliner Ökonom und Politikwissenschaftler Philipp Lepenies. Daran muss sich ein Grünkonservatismus bewähren.
Schwarz-Grün, das ist auf jeden Fall ein Realo-Projekt