Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Kraft der Kunst
Wie Eminem einst das Leben einer jungen Afghanin veränderte.
Angesichts des DocumentaSkandals frage ich mich, was Kunst eigentlich ausmacht. Der amerikanische Philosoph John Dewey hat sie als eine neue und revolutionäre Erfahrung beschrieben. Ich weiß, das klingt heute zum Gähnen, aufgeblasen und lebensfern. Jedenfalls wenn man an Kunstausstellungen denkt. Kunst kann aber gerade dort passieren, wo man es nicht vermutet, etwa in einem Fitnessstudio mit aufgedrehten Lautsprechern. Es war einmal eine Jugendliche aus einer afghanischen Flüchtlingsfamilie im Iran, die beklommen einer arrangierten Heirat mit einem älteren Mann entgegensah. Während Sonita Alizadeh in einem Teheraner Fitnessstudio den Boden wischte, dröhnte „Kim“aus den Lautsprechern. Sonita versteht kein Englisch. Sie weiß nicht, dass es in dem Lied des US-amerikanischen Rappers Eminem um einen mörderischen Streit mit seiner Ehefrau geht. Aber die grandiose musikalische Dramatisierung von Verzweiflung, Ohnmacht und zerstörerischer Wut löst etwas in ihr aus: „Es war, als ob mir Eminem ein Werkzeug gegeben hätte, um endlich für mich einzustehen.“Sie beginnt zu singen. Sie nimmt ein Lied auf: „Brides for Sale“. Und sie schafft es, auch in der Familie ihre eigene Stimme zu entwickeln und sich gegen die Verheiratungspläne der Mutter durchzusetzen. Heute studiert sie mit einem Stipendium in den USA. Wie kann das unverständliche Geschimpfe eines weißen Amerikaners über seine untreue Ehefrau bei einer jungen Afghanin einen Emanzipationsprozess auslösen? Weil Eminems Lied nicht gegen die Unterdrückung von Frauen „interveniert“oder sie sonst wie politisch belehrt. Propagandakunst ist steril. Eminem hingegen bringt ein persönliches Leid in eine musikalische Form, die Botschaften zu Menschen auch in ganz anderen Kulturen und Lebensumständen senden kann. Was diese Botschaften besagen, hängt ebenso sehr von der Ansprechbarkeit und Kreativität der Empfängerin ab wie der des Künstlers. Erst durch sie bekommen die Botschaften ihren lebensverändernden Sinn.
Unsere Autorin ist Philosophie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie wechselt sich hier mit der Infektionsbiologin Gabriele Pradel ab.