Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ganz, gar nicht oder etwas dazwischen
An diesem Donnerstag endet die Wartung von Nord Stream 1. In welchem Umfang wird Putin Gas liefern? Drei Szenarien.
Mit Bangen blickt Deutschland auf diesen Donnerstag. Dann endet die jährliche Wartung der Pipeline Nord Stream 1, für die Russland die Gaslieferung unterbrochen hat. Was macht Russlands Präsident Putin dann? Lässt er das Gas voll strömen, nur etwas oder gar nicht? Drei Szenarien.
Szenario 1: Es kommt kein Gas Damit rechnet Manuel Frondel, Energieexperte des RWI-Leibniz-Institutes: „Ich erwarte, dass Russland sämtliche Gaslieferungen an Deutschland weiterhin aussetzen wird, nicht allein die Lieferungen durch Nord Stream 1. Wenn Putin auf Deutschland und die EU Druck ausüben möchte, damit die Sanktionen gegen Russland überdacht oder gar gelockert werden, dann muss Putin das jetzt tun.“Und das hat Auswirkungen für Verbraucher und Industrie. „Die Lage ist angespannt, und eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, warnte die Bundesnetzagentur. Die aktuelle Versorgung ist zwar noch gesichert, doch es dürfte in diesem Szenario weitere Preiserhöhungen und im Winter einen Gasmangel geben.
„Werden die Lieferungen nicht wieder aufgenommen, kann dies noch einmal zu deutlichen Preissprüngen beim Erdgas führen“, meint Frondel: „Das dürfte die Einsparbemühungen beim Erdgas weiter deutlich verstärken. Dennoch könnte es über kurz oder lang zu einer Gasmangellage kommen, nicht zuletzt weil Deutschland in der moralischen Pflicht steht, einige Nachbarländer mitversorgen zu müssen.“Wenn die Regierung die dritte von drei Stufen des Notfallplans ausruft, wird Gas rationiert. Das könnte – je nach Verbrauch und Flüssiggas-Lage – im Januar der Fall sein. Regionale Notstände könnten schon früher eintreten: vor allem in Bayern, wo es viel Industrie und wenig Kohlekraftwerke gibt. Zudem wird der Freistaat über den Speicher im österreichischen Haidach versorgt. Die Netzagentur will bei Ausrufung der Notfallstufe als erstes Abschaltverfügungen für Schwimmbäder und große Unternehmen erlassen, um den Verbrauch zu senken.
Szenario 2: Putin dreht den Gashahn wieder voll auf Am Dienstag hatte der Kremlchef erklärt, dass Gazprom seine Verpflichtungen in „vollem Umfang“erfüllen werde. Dann könnten Unternehmen fortfahren, für den Winter einzuspeichern. Aktuell liegt der Füllstand der deutschen Speicher bei 65 Prozent, das ist für die Jahreszeit üblich. Doch die Befüllung ging zuletzt nur noch sehr langsam voran. Experten halten ein volles Aufdrehen aber für unwahrscheinlich, zumal Putin mit einer weiteren Drosselung droht. Sollte die Turbine, die in Kanada repariert wurde, nicht in Russland eintreffen, könne man nur noch 30 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag liefern. Ursprünglich lag das Tagesvolumen bei 167 Millionen Kubikmetern. Russland hat nicht nur die Lieferung durch Nord Stream 1, sondern auch über die Transgas-/Megal-Pipeline gestoppt, die im bayrischen Waidhaus ankommt.
Dass die Turbine tatsächlich bis Donnerstag eingesetzt ist, gilt als unwahrscheinlich. In der Bundesregierung gibt man sich dennoch optimistisch, zumindest in den offiziellen Äußerungen. „Wir gehen davon aus, dass nach Ablauf dieser Überprüfungs- oder Wartungsfrist das Gas wieder in vollem Umfang fließen wird, dass Russland sich diesbezüglich also an seine Verpflichtungen halten wird“, sagte Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. Doch hinter vorgehaltener Hand klingt durchaus an, dass man eher vom dritten Szenario ausgeht, und sich darauf einstellt, dass der Kremlchef bewusst weiter Verunsicherung stiften wird und den europäischen Zusammenhalt auf die Probe stellen will. Offen kommentieren will man die Äußerungen von Putin aber nicht. „Es hilft jetzt nicht, darüber zu spekulieren“, sagt eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums am Mittwoch.
Szenario 3: Putin dreht den Gashahn etwas auf Schon vor der Wartung von Nord Stream 1 hatte Gazprom die Lieferungen auf 40 Prozent des ursprünglichen Volumens reduziert. Dazu könnte er nun zurückkehren. Das erwartet Clemens Fuest, der Chef des Ifo-Institutes: „Ich rechne damit, dass Russland die Lieferungen allenfalls anteilig wieder aufnimmt und versucht, durch ständige Verunsicherung über die Gasversorgung die politische Unterstützung der Bevölkerung und der Politik in Europa für die Ukraine zu erschüttern“, sagte Fuest unserer Redaktion: „Auch deshalb ist es entscheidend, dass wir uns entschlossen darauf vorbereiten, ohne weiteres russisches Gas durch den Winter zu kommen.“Es sei sehr wichtig, alle Möglichkeiten zur Senkung des Gasverbrauchs und zur Erschließung anderer Gasquellen zu nutzen, selbst wenn Russland seine Lieferungen wieder aufnehmen sollte: „Insbesondere Länder wie Deutschland und Italien sind schlecht auf ein Ende der russischen Gaslieferungen vorbereitet.“
RWI-Experte Frondel geht davon aus, dass 40-Prozent-Lieferungen reichen: „Würde wieder Gas geliefert, und sei es auch nur in reduziertem Umfang von 40 Prozent, würden die Gasspeicher bis zum Herbst weiter aufgefüllt werden können.“
Aus den Reihen der Bundesregierung ist zu hören, dass man sich darauf einstellt, dass der Kreml neue Vorwände finden wird, um mögliche Liefereinschränkungen technisch zu begründen – sollte die fehlende Turbine nun eingebaut werden oder nicht. Wo die Turbine sich derzeit befindet, wird weiter unter Verschluss gehalten. Davon seinen „Sicherheitsfragen berührt“, heißt es.