Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ein Dorf produziert seine eigene Energie
Altenmellrich in Westfalen erzeugt für fast alle Haushalte die Wärme und den Strom selbst. Die Bürgerschaft hat sich dafür zusammengeschlossen – und lebt gut damit. Ein Ortsbesuch im Bioenergiedorf.
Lange bevor die ersten Häuser von Altenmellrich zu sehen sind, fällt schon die Phalanx der Windräder am Horizont auf. In der hügeligen Landschaft prägen sie das Panorama. Allein 23 stehen verteilt um die Ortschaft, die zu Anröchte gehört, auf dem windreichen Höhenzug der Haar. Zusammen liefern die Windkraftanlagen rund 34 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr. Dazu kommt Strom aus einer Biogasanlage und aus Fotovoltaik – insgesamt etwa 43-mal so viel, wie die Anwohner verbrauchen. Rund 350 Menschen leben in Altenmellrich, das Dorf wirkt gepflegt, ist umgeben von Feldern. Eine Landstraße führt durch den Ort, Läden oder eine Kneipe gibt es nicht, dafür ein ansehnliches Schützenhaus.
Weil die Westfalen auch ihre Wärme weitgehend selbst erzeugen, darf sich Altenmellrich Bioenergiedorf nennen. Was angesichts der Energiekrise genauso vorteilhaft ist, wie es sich anhört: „Besser kann man es nicht haben“, sagt Werner Hense, der bei der Nahwärmenetz GbR Altenmellrich unter anderem für die Finanzen zuständig ist. Eine Aufgabe, die ihm angesichts der galoppierenden Energiepreise nicht schwerfällt, erzählt er, während er vor den
Türen der Nahwärmezentrale steht, die mitten im Dorf liegt. „Uns erreichen immer wieder Anfragen, ob man die Leitungen nicht bis ins Nachbardorf verlegen kann.“
Aus heutiger Sicht haben die Altenmellricher alles richtig gemacht. Wünscht sich doch gerade fast jeder, unabhängig zu sein von Gas, Öl und Preiskapriolen. Aber bis dahin war es ein weiter Weg, musste viel geplant, erklärt und diskutiert werden. Hense gehörte zu den drei Altenmellrichern, die vor zwölf Jahren die Idee hatten, die Wärme aus der nahe gelegenen Biogasanlage der Familie Gröblinghoff für den Ort zu nutzen. Der Anstoß, sich energietechnisch unabhängig zu machen, kam also aus den eigenen Reihen. Hilfreich war, dass Hense mit Dominik Jäker den Ingenieur an seiner Seite wusste, der das neue Nahwärmenetz planen sollte.
Der Dritte im Bunde war Ortsvorsteher Georg Dicke, der als Vorsitzender die GbR leitet. Schon in der ersten Dorfversammlung waren 56 von damals 85 infrage kommenden Haushalten bereit, das Risiko zu tragen. Heute hängen rund 80 Häuser am Netz – von 90, bei denen es möglich wäre. Heißt: Das Dorf hat sich getraut. Und in die Zukunft investiert. Es wurde sogar eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet, die Nahwärmenetz GbR. „Das ist eher selten, weil die Haftungssumme und damit das Risiko jedes Gesellschafters größer ist“, sagt Jäker. Schließlich hätte das Projekt auch scheitern können.
Ist es aber nicht: Am 19. Dezember 2011, ein paar Tage vor Weihnachten, strömte zum ersten Mal Wärme durch das damals 3,4 Kilometer lange Netz. Heute, mit einigen Neukunden, kommt es auf vier Kilometer Leitungslänge. Ersetzt wurden damals rund 40 Ölheizungen, etwa zwölf Elektroheizungen und fünf, die mit Flüssiggas betrieben wurden. Alle Dorfbewohner hatten zugestimmt, dass die Leitungen über ihre Grundstücke und ihre Gärten verlegt werden durften, um Kosten zu sparen – auch diejenigen, die nicht angeschlossen werden wollten. Für Hense ein Beleg für eine intakte Dorfgemeinschaft: „Ohne Vertrauen in die Gesellschaft funktioniert so ein Projekt nicht“, sagt er. Insgesamt betrugen die Baukosten
750.000 Euro, davon gingen 363.000 Euro Förderung ab, für den Rest wurde ein Darlehen mit 20-jähriger Laufzeit aufgenommen. Jeder GbR-Gesellschafter musste eine Einlage von 300 Euro zahlen und die Umbaukosten für seine Heizanlage, was mit 500 bis 5000 Euro zu Buche schlug. Dazu kam damals ein jährlicher Grundpreis von 580 Euro, der heute auf 360 Euro gefallen ist. Für die Kilowattstunde fallen derzeit drei Cent an, was gegenüber Öl derzeit um den Faktor drei bis vier günstiger ist. „Hochgerechnet haben wir dadurch rund 250.000 Liter Öl pro Jahr gespart“, sagt Hense. Also rund drei Millionen Liter Öl bis heute. Befeuert wird die Biogasanlage unter anderem mit Mais, Zuckerrüben und Pflanzensilage, also nachwachsenden Rohstoffen. Ein eigens vom Landwirt in Altenmellrich errichtetes Blockheizkraftwerk bringt die Wärme ins Netz.
Bislang fast komplikationslos. „Wir hatten noch kein Mal kalte Füße“, sagt Jäker. Bis auf den ersten Februar nach dem Start; damals fror bei anhaltend extremen Minustemperaturen die Gasaufbereitung ein. Damals hätten dann einige doch kurz gezweifelt, erzählt Hense. Die meisten mussten aber nicht frieren, weil in den ersten Monaten der Betrieb der alten Heizungen noch möglich war. Manfred Löher will die Stromproduktion von Altenmellrich sogar auf noch breitere Füße stellen. Am Dorfrand soll eine Agri-Freiflächen-Fotovoltaikanlage entstehen, mit Modulen, die von beiden Seiten bescheinbar sind.
Immerhin 48 Einwohner aus dem Dorf wollen sich auch an diesem Zukunftsprojekt, wie es Löher ausdrücklich nennt, beteiligen. So groß ist der Glaube der Dorfgemeinschaft daran, die Energiewende aus eigener Kraft zu schaffen. Die drei Männer schmunzeln. „Im Moment haben wir keine Sorgen“, sagt Hense. „Der Energiekrise sehen wir gelassen entgegen.“