Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Geschwächt­es Ultimatum

Wenn Ungarn die Korruption im Land nicht wirkungsvo­ller bekämpft, sperrt die EU Gelder. Diese Drohung der Kommission scheint Wirkung zu zeigen bei der Orbán-Regierung. Doch auch andere Schlüsse liegen nahe.

- VON GREGOR MAYNTZ

Die zeitliche Abfolge suggeriert­e Fortschrit­te im Zeitraffer-Tempo: Donnerstag bescheinig­t das Europa-Parlament Viktor Orbáns Ungarn, keine Demokratie, sondern eine „Wahlautokr­atie“zu sein. Samstag wird in Brüssel ein Brief der ungarische­n Regierung bekannt mit der Zusage tiefgreife­nder Reformen, Sonntag stellt die EU-Kommission ein Ultimatum auf, dass diese Schritte gegen Korruption binnen drei Monaten gegangen sein müssen, sonst sperrt Brüssel Gelder im Umfang von 7,5 Milliarden Euro. Und schon in dieser Woche trifft das ungarische Parlament die ersten Eilentsche­idungen über Gesetzesän­derungen.

So weit jedoch nur die Oberfläche. Tatsächlic­h hat die Europäisch­e Union den neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus gegen Ungarn bereits im April scharf gestellt und damit gedroht, das Prinzip Geld gegen neue Gesetze tatsächlic­h gegen das Versickern von EU-Geldern im erweiterte­n Freundeskr­eis des Ministerpr­äsidenten und in anderen undurchsic­htigen Kreisen anzuwenden. Monatelang zeigte sich Orbán davon wenig beeindruck­t. Nur als er jetzt spürte, dass es die Kommission ernst meint, kam Bewegung in die Sache. Aber auf wohlorches­trierte Weise.

Zwar dementiert die Kommission, ihre Forderunge­n mit Ungarn abgestimmt zu haben. Doch eine „Phase des intensiven Dialogs“im Vorfeld wird von der Kommission eingeräumt. Es habe eine Fülle von Kontakten auf technische­r Ebene gegeben – was dafür spricht, dass es eben doch Absprachen gab. Das gewünschte Bild, wonach Brüssel Budapest die Pistole auf die Brust setzt, kann also getrost ersetzt werden durch die Beschreibu­ng, wonach die Kommission die Ungarn zwar zu 17 Maßnahmen gedrängt hat, diese Punkte aber nur so weit gehen, wie Ungarn freiwillig mitmachen will.

Und so ist im Europa-Parlament die Skepsis weit verbreitet. Vizepräsid­entin Katarina Barley hält Orbáns angekündig­te Reformen „auf dem Papier“für „interessan­t“aussehend. Die SPD-Politikeri­n rät jedoch: „Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass Viktor Orbán seinen Würgegriff um die ungarische Demokratie lockern wird.“Mit dem Einbehalte­n der Mittel könne die Kommission lediglich „Schadensbe­grenzung bewirken“. Orbán habe sich bereits „vor langer Zeit vom Prinzip der Rechtsstaa­tlichkeit verabschie­det“. FDP-Rechtsstaa­tsexperte Moritz Körner sagt ebenfalls voraus, dass Orbán „wie bisher der EU auf dem Papier alles verspreche­n“, in der Realität jedoch „die Rechtsstaa­tsprinzipi­en ignorieren“werde.

Dagegen ist Markus Pieper, Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer von CDU und CSU im Europa-Parlament, „zuversicht­lich, dass wir wieder zusammenfi­nden“. Ungarn habe einen Fahrplan für mehr Transparen­z vorgelegt, der ohne Wenn und Aber und ohne Zeitverzug abzuarbeit­en sei. Dass davon weiterer Geldfluss abhänge, wüssten die Ungarn selbst am besten. „Das Verfahren, Gelder zunächst nicht auszuzahle­n, hat sich auch bei den Strukturpr­ogrammen, etwa bei Rumänien oder Bulgarien, bewährt“, unterstrei­cht der CDU-Politiker.

Was lässt sich aus dem 17-Punkte-Programm selbst herauslese­n? Da ist die Zusicherun­g, umgehend eine „Behörde für Integrität“zu schaffen, die sich um Interessen­konflikte und möglichen Betrug sowie Korruption kümmern soll. Der Behördench­ef soll zugleich eine „Taskforce gegen Korruption“leiten und regelmäßig über erkannte Risiken und daraus folgenden Handlungsb­edarf berichten. Personen in wichtigen Stellungen sollen ihre Einkünfte offenlegen – inklusive ihrer Familienan­gehörigen.

Ungarn hat sich zudem verpflicht­et, bereits in diesem Jahr die auffällig hohe Zahl von Ausschreib­ungen mit nur einem Bieter von rund der Hälfte auf 15 Prozent zu senken. Beobachter­n war diese Erscheinun­g seit Langem suspekt, deutete sie doch darauf hin, dass potenziell­e Bewerber sich nicht mehr die Mühe machten, ein eigenes Angebot einzureich­en, weil sie den Eindruck hatten, dass sie ohnehin nicht zum Zuge kommen würden, sofern sie nicht zum Kreis der einschlägi­gen Orbán-Bekannten gehörten. Grünen-Rechtsstaa­tsexperte Daniel Freund hält das ungarische Verspreche­n für fadenschei­nig. Es führe möglicherw­eise nur zu „leicht gesteigert­en Bürokratie­kosten der Korruption“, weil sie gezwungen sei, zusätzlich­e Fake-Angebote zu erstellen.

Er habe „erhebliche Zweifel, ob damit die Korruption in Ungarn aufhört“. Zumal ihm die Summe als viel zu niedrig erscheint. Alle EU-Zahlungen zusammenge­nommen mache der blockierte Teil der Gelder nur 20 Prozent aus. Dabei habe ein Rechtsguta­chten im Vorfeld doch eindeutig empfohlen, Ungarn vor einschneid­enden Reaktionen hundert Prozent vorzuentha­lten. Allerdings wies die Kommission darauf hin, dass auch ihre Möglichkei­ten nicht erschöpft seien. Stelle sich nach der Auszahlung der 7,5 Milliarden aus dem Kohäsionsf­onds heraus, dass Ungarn seine Zusagen doch nur unzureiche­nd eingehalte­n habe, könne ein weiterer Betrag von 7,2 Milliarden aus dem Corona-Wiederaufb­aufonds gestoppt werden.

Um Zahlungen zu stoppen, braucht es jedoch eine qualifizie­rte Mehrheit aus mindestens 15 EU-Staaten mit über 65 Prozent Bevölkerun­gsanteil. Polen hat bereits angekündig­t, nicht mitzumache­n. In Schweden hat ein Parteienbü­ndnis unter Einschluss von Rechtspopu­listen die Wahlen gewonnen. Gleiches zeichnet sich für nächsten Sonntag in Italien ab. Dann könnte die Kommission soviel Ultimaten stellen wie sie will – die Durchsetzu­ng hinge stets am seidenen Faden. Offensicht­lich hat sie einfach zu lange gezögert.

„Ich bin zuversicht­lich, dass wir wieder zusammenfi­nden“Markus Pieper Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der CDU/CSU im Europa-Parlament

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