Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Rückkehr der Seuchen

Der Impfunmut in der Gesellscha­ft öffnet die Tore für fast vergessene Erreger.

- GABRIELE PRADEL

Kathleen Hochul, Gouverneur­in des US-Bundestaat­s New York, rief in der vergangene­n Woche den Katastroph­enfall aus. Im Abwasser verschiede­ner Bezirke einschließ­lich der Metropole New York City waren über Wochen hinweg Polioviren gefunden worden und eine erste Person erkrankte an der Kinderlähm­ung. Von ähnlichen Befunden wurde aus London berichtet, was die Sorge vor einer neuen Epidemie schürt.

Das Poliovirus wird durch Schmierinf­ektionen oder verunreini­gtes Wasser übertragen. Im Menschen besiedelt es zuerst den Darm und befällt dann die Motoneuron­en des Rückenmark­s. Die Zerstörung der Nervenzell­en führt zu Lähmungen in den Extremität­en oder – im schlimmste­n Fall – des Zwerchfell­s, wodurch die Atmung aussetzt. Der Großteil der Infizierte­n ist in der Lage, rechtzeiti­g schützende Antikörper zu bilden, bevor das Virus die Motoneuron­en erreicht. Etwa fünf Prozent der Betroffene­n, vor allem Kinder, erkranken jedoch schwer. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an Menschen, die von der Kinderlähm­ung schwer gezeichnet waren. Mit der Entwicklun­g erster Schluckimp­fstoffe in den sechziger Jahren konnte die Kinderlähm­ung dann rasch bezwungen werden; inzwischen stehen verbessert­e Impfstoffe zur Verfügung. Doch die Impfbereit­schaft insbesonde­rs jüngerer Generation­en, die die schrecklic­hen Folgen einer Polio-Infektion nie selbst mitangeseh­en haben, geht zurück, und die Impflücke führt zum Comeback des Poliovirus.

Nach den Affenpocke­n sehen sich die westlichen Industries­taaten innerhalb nur eines Jahres zum zweiten Mal mit einer Infektions­krankheit konfrontie­rt, von der man glaubte, sie wäre dank der rigorosen Impfkampag­nen des letzten Jahrhunder­ts besiegt worden. Doch Infektions­erreger persistier­en in asymptomat­ischen Trägern oder in Tieren und treten dann wieder zum Vorschein, wenn die Gesellscha­ft unachtsam wird. Der steigende Impfunmut in der Bevölkerun­g öffnet die Tore für fast vergessene Krankheits­erreger, und es folgt die Rückkehr der Seuchen.

Unsere Autorin ist Professori­n für Infektions­biologie an der RWTH Aachen. Sie wechselt sich hier mit der Philosophi­n Maria-Sibylla Lotter ab.

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