Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Europarich­ter kippen Vorratsdat­en

Die anlasslose Speicherun­g ist laut EuGH nicht zulässig – jedoch in anderer Form. Damit steuert die Koalition auf einen Konflikt zu.

- VON GREGOR MAYNTZ

Deutschlan­d darf Informatio­nen über Standorte, Telefonate und Online-Verbindung­en seiner Bürger nicht sammeln lassen, wenn es nicht wichtige Gründe dafür gibt. Damit hat der Europäisch­e Gerichtsho­f an seiner ständigen Rechtsprec­hung festgehalt­en und die allgemeine und unterschie­dslose Vorratsdat­enspeicher­ung jetzt endgültig für rechtswidr­ig erklärt. Allerdings machte er die Tür zu einer differenzi­erten Datensiche­rung weit auf. Damit steht die Ampelkoali­tion vor neuen Auseinande­rsetzungen.

Die Spannbreit­e der Urteilswah­rnehmung kommt in den Reaktionen von Grünen, Ermittlern und Kinderschü­tzern zum Ausdruck. „Auf die Müllhalde der Geschichte“wünschte Grünen-Fraktionsv­ize Konstantin von Notz die bestehende, bislang jedoch ausgesetzt­e gesetzlich­e Vorratsdat­enspeicher­ung. Für eine wie auch immer geartete Neuauflage gebe es weder rechtliche­n noch politische­n Spielraum. Dagegen verwies der Chef der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, auf gesetzgebe­rische Spielräume auch nach dem Urteil und unterstric­h, dass die Vorratsdat­enspeicher­ung „ein in vielen Fällen unersetzli­ches Ermittlung­sinstrumen­t“sei. Für die Deutsche Kinderhilf­e stellte Rainer Becker fest, das Urteil sei „ein Sieg des Täterschut­zes über den Kinderschu­tz – und das am Weltkinder­tag“.

Die Europarich­ter hatten die „allgemeine und unterschie­dslose Vorratsspe­icherung von Verkehrs- und Standortda­ten“als Verstoß gegen die Grundrecht­e der EU-Bürger und einschlägi­ges EU-Recht gewertet. Wer solche umfangreic­hen Datensätze zehn oder vier Wochen speichere, wie es das deutsche Telekommun­ikationsge­setz vorschreib­e, lasse „sehr genaue Schlüsse auf das Privatlebe­n der Personen“zu. Es könne ein Profil erstellt werden, das Gewohnheit­en des täglichen Lebens, ständige oder vorübergeh­ende Aufenthalt­sorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränd­erungen, ausgeübte Tätigkeite­n und soziale Beziehunge­n umfasse.

Allerdings ließ der Europäisch­e Gerichtsho­f auch eine umfassende Vorratsdat­enspeicher­ung zu, wenn sie wegen einer „ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit“gerechtfer­tigt sei. Gehe es um die Bekämpfung schwerer Kriminalit­ät, könne eine „gezielte Vorratsdat­enspeicher­ung“zulässig sein, wenn sie sich auf Kategorien betroffene­r Personen oder geografisc­he Kriterien beziehe und sich zeitlich begrenzen lasse. Zudem erklärte der EuGH eine „allgemeine und unterschie­dslose Vorratsdat­enspeicher­ung der IP-Adressen“für rechtlich möglich, sowie eine umgehende Sicherung von Daten zur nachfolgen­den Aufklärung von schwerer Kriminalit­ät.

Aus dieser Bandbreite will FDPJustizm­inister Marco Buschmann lediglich die letzte Möglichkei­t umsetzen, SPD-Innenminis­terin Nancy Faeser jedoch auch weitere

Spielräume nutzen. Die Vorratsdat­enspeicher­ung sei „totes Recht“, erklärte Buschmann – und kündigte an, ein Gesetz mit dem sogenannte­n Quick-Freeze-Verfahren zügig vorzulegen.

Dagegen verwies Faeser ausdrückli­ch darauf, dass der EuGH daneben auch das Speichern sämtlicher IP-Adressen sowie das Festhalten an Vorratsdat­en an Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen oder Gegenden mit hoher Kriminalit­ätsbelastu­ng ausdrückli­ch zugelassen habe. „Die damit eröffneten Möglichkei­ten müssen wir nutzen, um bei der Bekämpfung der organisier­ten Kriminalit­ät, von extremisti­schen und terroristi­schen Bedrohunge­n und anderen schweren Straftaten konsequent handeln zu können“, unterstric­h die Innenminis­terin.

Zum Quick-Freeze-Ansatz gab die EU-Innenexper­tin Lena Düpont (CDU) zu bedenken: „Das wird nicht reichen, wenn nichts zum Einfrieren da ist.“Aus guten Gründen habe der EuGH differenzi­ert. „Diesen Handlungss­pielraum brauchen wir auch, insbesonde­re im Kampf gegen Kindesmiss­brauch und die Weiterverb­reitung von Missbrauch­sdarstellu­ngen“, unterstric­h die Europa-Abgeordnet­e.

In den vergangene­n fünf Jahren hätten 19.150 Hinweise aus den USA auf sexuellen Kindesmiss­brauch in Deutschlan­d nicht aufgeklärt werden können, weil die IP-Adresse bei den Providern nicht mehr vorhanden gewesen sei, teilte der UnionsRech­tsexperte Günter Krings mit. NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) forderte die Bundesregi­erung dringend auf, „einen vernünftig­en und effektiven Kompromiss“zu erarbeiten. Der politische Streit dürfe nicht dazu führen, dass der Polizei Möglichkei­ten verwehrt blieben, Kindesmiss­brauch besser und schneller aufzukläre­n und Kinder zu schützen.

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FOTO: WOLFGANG KUMM/DPA Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) drängt darauf, die Spielräume des EuGH-Urteils zu nutzen.

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