Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Europarichter kippen Vorratsdaten
Die anlasslose Speicherung ist laut EuGH nicht zulässig – jedoch in anderer Form. Damit steuert die Koalition auf einen Konflikt zu.
Deutschland darf Informationen über Standorte, Telefonate und Online-Verbindungen seiner Bürger nicht sammeln lassen, wenn es nicht wichtige Gründe dafür gibt. Damit hat der Europäische Gerichtshof an seiner ständigen Rechtsprechung festgehalten und die allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung jetzt endgültig für rechtswidrig erklärt. Allerdings machte er die Tür zu einer differenzierten Datensicherung weit auf. Damit steht die Ampelkoalition vor neuen Auseinandersetzungen.
Die Spannbreite der Urteilswahrnehmung kommt in den Reaktionen von Grünen, Ermittlern und Kinderschützern zum Ausdruck. „Auf die Müllhalde der Geschichte“wünschte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz die bestehende, bislang jedoch ausgesetzte gesetzliche Vorratsdatenspeicherung. Für eine wie auch immer geartete Neuauflage gebe es weder rechtlichen noch politischen Spielraum. Dagegen verwies der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, auf gesetzgeberische Spielräume auch nach dem Urteil und unterstrich, dass die Vorratsdatenspeicherung „ein in vielen Fällen unersetzliches Ermittlungsinstrument“sei. Für die Deutsche Kinderhilfe stellte Rainer Becker fest, das Urteil sei „ein Sieg des Täterschutzes über den Kinderschutz – und das am Weltkindertag“.
Die Europarichter hatten die „allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten“als Verstoß gegen die Grundrechte der EU-Bürger und einschlägiges EU-Recht gewertet. Wer solche umfangreichen Datensätze zehn oder vier Wochen speichere, wie es das deutsche Telekommunikationsgesetz vorschreibe, lasse „sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen“zu. Es könne ein Profil erstellt werden, das Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten und soziale Beziehungen umfasse.
Allerdings ließ der Europäische Gerichtshof auch eine umfassende Vorratsdatenspeicherung zu, wenn sie wegen einer „ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit“gerechtfertigt sei. Gehe es um die Bekämpfung schwerer Kriminalität, könne eine „gezielte Vorratsdatenspeicherung“zulässig sein, wenn sie sich auf Kategorien betroffener Personen oder geografische Kriterien beziehe und sich zeitlich begrenzen lasse. Zudem erklärte der EuGH eine „allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung der IP-Adressen“für rechtlich möglich, sowie eine umgehende Sicherung von Daten zur nachfolgenden Aufklärung von schwerer Kriminalität.
Aus dieser Bandbreite will FDPJustizminister Marco Buschmann lediglich die letzte Möglichkeit umsetzen, SPD-Innenministerin Nancy Faeser jedoch auch weitere
Spielräume nutzen. Die Vorratsdatenspeicherung sei „totes Recht“, erklärte Buschmann – und kündigte an, ein Gesetz mit dem sogenannten Quick-Freeze-Verfahren zügig vorzulegen.
Dagegen verwies Faeser ausdrücklich darauf, dass der EuGH daneben auch das Speichern sämtlicher IP-Adressen sowie das Festhalten an Vorratsdaten an Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen oder Gegenden mit hoher Kriminalitätsbelastung ausdrücklich zugelassen habe. „Die damit eröffneten Möglichkeiten müssen wir nutzen, um bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, von extremistischen und terroristischen Bedrohungen und anderen schweren Straftaten konsequent handeln zu können“, unterstrich die Innenministerin.
Zum Quick-Freeze-Ansatz gab die EU-Innenexpertin Lena Düpont (CDU) zu bedenken: „Das wird nicht reichen, wenn nichts zum Einfrieren da ist.“Aus guten Gründen habe der EuGH differenziert. „Diesen Handlungsspielraum brauchen wir auch, insbesondere im Kampf gegen Kindesmissbrauch und die Weiterverbreitung von Missbrauchsdarstellungen“, unterstrich die Europa-Abgeordnete.
In den vergangenen fünf Jahren hätten 19.150 Hinweise aus den USA auf sexuellen Kindesmissbrauch in Deutschland nicht aufgeklärt werden können, weil die IP-Adresse bei den Providern nicht mehr vorhanden gewesen sei, teilte der UnionsRechtsexperte Günter Krings mit. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) forderte die Bundesregierung dringend auf, „einen vernünftigen und effektiven Kompromiss“zu erarbeiten. Der politische Streit dürfe nicht dazu führen, dass der Polizei Möglichkeiten verwehrt blieben, Kindesmissbrauch besser und schneller aufzuklären und Kinder zu schützen.