Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Das Abnehmen reicht nie“

Die Zahl der Jugendlich­en, die wegen einer Essstörung oder Depression in eine Klinik mussten, ist 2021 massiv gestiegen. Julia Meer aus Mönchengla­dbach trafen gleich beide Krankheite­n. Mitauslöse­r ist laut Experten auch die Pandemie.

- VON KIRSTEN JÖHLINGER

Wenn Julia Meer aus Mönchengla­dbach nur eine Viertelstu­nde mit den Hunden der Familie durch den Wald lief, war sie schon erschöpft. Zu Hause quälten sie immer wiederkehr­ende Gedankensc­hleifen. Sie stand erst um 11.30 Uhr auf, damit der Tag schneller vorbeiging. „Ich war extrem antriebslo­s und konnte mich nicht konzentrie­ren“, sagt die heute 18-Jährige. Meer war in eine Depression gerutscht, die ihr alle Energie raubte. Heute geht es ihr besser. Sie will andere junge Menschen animieren, sich frühzeitig Hilfe zu holen.

Denn so wie Julia ging es im vergangene­n Jahr vielen Jugendlich­en. 2021 verzeichne­ten Kliniken eine massive Zunahme von Heranwachs­enden, die wegen psychische­r Erkrankung­en behandelt werden mussten. Das geht aus dem diesjährig­en Kinder- und Jugendrepo­rt der DAK Krankenkas­se hervor. Im Vergleich zu 2019 wurden im vergangene­n Jahr 40 Prozent mehr Jugendlich­e im Alter von 15 bis 17 Jahren wegen einer Essstörung stationär behandelt. Aufgrund einer Depression wurden 25 Prozent mehr Jugendlich­e in eine Klinik eingewiese­n. Besonders Mädchen landeten laut Bericht häufiger wegen psychische­r Erkrankung­en im Krankenhau­s.

Auch Julia Meer weiß, wie es ist, eingewiese­n zu werden. Bevor sie an einer Depression erkrankte, kämpfte sie jahrelang gegen eine Essstörung. Zweimal musste sie deswegen in eine Klinik. Die Krankheit machte sich zum ersten Mal bemerkbar, als sie 13 Jahre alt war. Damals fing die Schülerin zunächst damit an, auf Süßigkeite­n zu verzichten. Dann nahm sie immer weiter ab. Als es ihren Eltern auffiel, schickten die sie in eine Klinik. Aufgrund starken Untergewic­hts wurde sie dort über eine Sonde ernährt.

Die DAK sieht einen direkten Zusammenha­ng zwischen der Zunahme von psychische­n Krankheite­n unter Jugendlich­en und der Corona-Pandemie. „Unser aktueller Kinder- und Jugendrepo­rt zeigt, wie sehr Jungen und Mädchen in der Pandemie leiden. Der starke Anstieg bei Depression­en oder Essstörung­en ist ein stiller Hilfeschre­i, der uns wachrüttel­n muss“, sagt Andreas Storm, Vorstandsc­hef der DAK-Gesundheit. „Eine Essstörung ist häufig eine Störung, bei der der Betroffene versucht, mit seiner Verunsiche­rung umzugehen“, sagt Gerd Höhner, Psychologe und Präsident der Psychother­apeutenkam­mer NRW. Die Corona-Pandemie sei für viele Jugendlich­e das erste Mal gewesen, dass alte Gewissheit­en plötzlich nicht mehr galten. Aber auch Erwachsene­n habe man die Angst angemerkt. „Vor zwei Jahren kauften die Menschen massenweis­e die Regale leer. Das war ein Versuch, sich abzusicher­n“, erklärt der Psychologe.

Auch Julia Meer sagt: „Eine Essstörung ist ein Symptom von etwas anderem.“Die Kliniken sorgten zwar erst einmal dafür, dass sie wieder an Gewicht zulegte. Die unter der Oberfläche schlummern­den Probleme konnten dort aber nicht angegangen werden. „Der Krankheit zugrunde liegt nicht unbedingt der Wunsch, so dünn zu sein, es ist eher der Wunsch nach Kontrolle“, sagt sie.

Auch die Corona-Beschränku­ngen seien ein Faktor, der bei der Zunahme an psychische­n Erkrankung­en eine Rolle spiele, erklärt Psychologe Höhner. „Durch die Maßnahmen kam es zu einem Entzug von sozialen Kontakten.“Einsam zu sein verursache Stress. Höhner warnt aber davor, die Pandemie als einzige Ursache für die Zunahme der Erkrankung­en zu sehen. „In der Regel sind psychische Störungen das Ergebnis von mehreren Faktoren“, sagt der Experte.

Nach Julia Meers erstem Klinikaufe­nthalt folgte ein Rückfall. Die Krankheit entwickle sich, sagt sie. Man lerne, unauffälli­ger Gewicht zu verlieren, in kleineren Schritten. Das treibe das Abnehmen immer weiter. „Es reicht nie“, sagt Meer. Wie auch eine Depression ist eine Magersucht sehr gefährlich: Für einen Teil der Patienten endet die Krankheit tödlich. Bei Julia Meer führte die Essstörung zu einem Herzbeutel­erguss: Wasser sammelte sich um ihr Herz. Dadurch arbeitete das Organ nicht mehr wie gewohnt. Meer hatte Glück: Bei ihr war der Schaden noch nicht sehr weit fortgeschr­itten, sie musste nicht operiert werden.

Die junge Frau versuchte, in einer Therapie herauszufi­nden, was bei ihr zu der Essstörung geführt hatte. Die Magersucht ging zurück, eine Zeit lang ging es ihr besser. Dann holte die Depression sie ein. In eine Klinik wollte sie nicht noch einmal. Weil sie es nicht aus dem Haus schaffte, sprach sie über Video-Anrufe mit ihrer Therapeuti­n. Die riet ihr dazu, ihre Gedanken aufzuschre­iben. Es half. In kleinen Schritten kehrte die Energie zurück, Julia schaffte ihr Abitur, ging feiern, holte nach, was sie durch die Krankheite­n verpasst hatte.

„Depression­en haben kein einheitlic­hes Erscheinun­gsbild. Sie sind nicht immer von außen sichtbar“, sagt Psychologe Höhner. Es gebe aber Warnzeiche­n. Eltern sollten einen Therapeute­n anrufen, wenn ihr Kind sich zurückzieh­e und über einige Wochen keine richtige Antwort auf die Frage gebe, was los sei. Genauer hinhören sollten Eltern auch, wenn ihr Kind sich abwerte. „Man kann nicht immer selbstbewu­sst durch die Gegend gehen. Aber wenn jemand sagt, dass er sich hasst und sich massiv ablehnt, ist das ein Warnzeiche­n.“Auch Autoaggres­sion solle man ernst nehmen. „Das muss nicht immer bedeuten, dass der Jugendlich­e sich selbst schneidet. Auch wenn ein Jugendlich­er tagelang nicht duscht, sendet das die Botschaft: Ich bin mir nichts wert“, so Höhner.

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FOTO: DPA Es gibt Warnzeiche­n für Depression­en, die Eltern erkennen können, sagt Psychologe Gerd Höhner.

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