Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Zurück im Zelt

Das Oktoberfes­t zieht nach zwei Jahren weniger Besucher an als sonst. Wer kommt, feiert dafür umso ausgelasse­ner. Ansonsten ist alles wie immer – bis hin zu den auch dieses Jahr gewaltig gestiegene­n Preisen für Bier und Backhendl.

- VON PATRICK GUYTON

Erstmals nach drei Jahren steht an diesem Nachmittag der alte Geruch in der Wirtsbuden­straße in der Luft, wie früher: gebrannte Mandeln und Zuckerwatt­e, gebratene Hendl und Bier, später kommt noch etwas Urin hinzu. Es werden wieder die Dinge verkauft, die man noch nie brauchte: Lebkuchenh­erzl, Brotzeitbr­ettl oder die recht dämlich aussehende­n Filzhüte.

Der Trubel ist wieder losgegange­n auf der Münchner Theresienw­iese beim Oktoberfes­t, dem weltweit größten Volksfest, das zuletzt 2019 stattgefun­den hatte und in den Jahren 2020 und 2021 wegen Corona abgesagt werden musste. Alles glückliche­rweise wie immer,

Frühere Volksfeste in diesem Jahr zeigen, dass die Inzidenzen danach in die Höhe schnellten

wie früher? Oder ist das – die Pandemie besteht weiterhin – eine gewagte, womöglich verantwort­ungslose Angelegenh­eit? Und wie lässt es sich überhaupt feiern angesichts Ukraine-Krieg, Energie- und Wirtschaft­skrise?

An diesem Nachmittag, so der Eindruck, ist sichtbar weniger los in den Straßen, bei den Fahrgeschä­ften, in den Zelten als zu einem vergleichb­aren Zeitpunkt vor drei oder mehr Jahren. Die ersten Zahlen der Oktoberfes­t-Organisato­ren von der Stadt München bestätigen das: Am ersten Wiesn-Tag wurden 700.000 Besucherin­nen und Besucher gezählt, 2019 war es eine Million. Das miese Wetter mit Kälte und Regen sei daran schuld, mutmaßen manche Betreiber.

Am 80 Meter hohen „Skyfall“Turm, der die Besucher nach unten stürzen und deren Mägen sich zusammenzi­ehen lässt, ertönt wieder das Disco-Gewummer. Am „Top Spin“gegenüber sind die gellenden Schreie der Menschen, vor allem der jungen Frauen zu hören, die dort in den Sitzen in alle Himmelsric­htungen durchgewir­belt werden.

Klar sichtbar ist eine Veränderun­g des Publikums, die schon von einem Wiesn-Wirt wie Christian Schottenha­mel vorhergesa­gt wurde: „Es kommen wahrschein­lich weniger ältere Leute, weil sie sich nicht wohl fühlen wegen Corona.“Dafür aber mehr Jüngere – „und die wollen“, so Schottenha­mel, „den Stress und die Einschränk­ungen der letzten zwei Jahre mal hinter sich lassen.“Er hofft, dass diese das Fest zum Ausgleich zwei oder drei Mal besuchen werden.

Vor der Wiesn-Leitung am westlichen Ende des Geländes bildet sich eine lange Schlange, um die 70 Menschen. Eine Polizistin, die am Eingang steht, sagt: „Die Leute haben etwas verloren und suchen danach.“Das gehört zum normalen WiesnAllta­g. Kaum etwas gibt es, was nicht schon im Fundbüro abgegeben wurde: Gebisse, ausgezogen­e Lederhosen, Rollstühle.

Daneben sind die Sanitäter untergebra­cht. Markus Strobl, Sprecher der Oktoberfes­t-Ambulanz, kommt gelassen und lächelnd aus den Behandlung­sräumen: „Es läuft etwas ruhiger an als sonst.“Am vergangene­n Abend gab es, so erzählt er, „316 Behandlung­en, meist wegen zu hohen Alkoholkon­sums“. 2019 waren es zum Vergleich 558.

Ganz in der Nähe, aber von weit oben, sieht die Bavaria zu. Die grün-schwärzlic­he Frauenstat­ue aus Bronze, 18,52 Meter hoch, ist die Symbolgest­alt für den Freistaat schlechthi­n. Sie schaut herab auf das, was ihre Bayern in diesem Herbst 2022 treiben. Ist dieses Oktoberfes­t bezüglich Corona ein sehr großes Menschenex­periment mit ungewissem Ausgang? Voraufgega­ngene kleinere Volksfeste in diesem Jahr zeigen, dass die Inzidenzen danach in die Höhe schnellten, die Krankenhäu­ser aber dennoch nicht überlastet waren. Ob das auch für die Wiesn gilt, ist ungewiss.

Der horrende Energiever­brauch ist in diesem Jahr ein immer wieder kritisiert­es Thema in Zeiten von Gas- und Stromknapp­heit. Die Wirte haben immerhin ein wenig reagiert: Sie verzichten auf Heizstrahl­er in den Außenberei­chen der Biergärten. Keinem ist verborgen geblieben, dass das Oktoberfes­t eine kostspieli­ge Angelegenh­eit ist. Die Maß Bier ist zwischen 12,60 und 13,80 Euro zu haben – knapp 16 Prozent mehr als 2019. Ein halbes Hendl schlägt mit 14,50 Euro zu Buche, in Bio-Qualität sind es 24,50 Euro. Da ist der Kartoffels­alat aber noch nicht dabei, er macht 5,50 Euro extra.

Die großen Zelte – da wird dicht an dicht gesungen, getanzt und getrunken. Maske trägt niemand. Der Münchner Virologe Oliver Keppler hat die Wahrschein­lichkeit, sich während mehrerer Stunden im Bierzelt mit Corona zu infizieren, bei einer Skala von eins bis zehn auf „neun bis zehn“eingeschät­zt. Beim Schottenha­mel ist die Stimmung um 16 Uhr noch ein bisschen mau, die Band stimmt an: „Wir kommen alle, alle, alle in den Himmel – weil wir so brav sind.“Das ändert sich schlagarti­g mit dem unverwüstl­ichen „YMCA“– das Zelt tanzt, singt, grölt, bebt. Wiesn wie immer, das möchten sie jetzt gerne glauben.

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FOTO: FELIX HÖRHAGER/DPA Moderatori­n Cathy Hummels (l.) feiert im Cafe Kaiserschm­arrn mit Ihren Freundinne­n.

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