Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Post-Nowitzki-Ära hat begonnen

Nach langen Jahren ist das immense sportliche Vakuum gefüllt, das das Karriereen­de des deutschen Basketball-Superstars hinterlass­en hatte. Der Würzburger selbst registrier­t das nicht etwa mit Neid, sondern mit Stolz und Erleichter­ung.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Die Liste der Rekorde von und Auszeichnu­ngen für Dirk Nowitzki umfasst 99 Einträge auf vier Seiten, und sie wächst weiter. Er war NBA-Champion und 14-facher AllStar, Wertvollst­er Spieler praktisch aller wichtigen Turniere, Fahnenträg­er bei den Olympische­n Spielen. Er ist der beste Korbschütz­e in der Geschichte der Nationalma­nnschaft. Er hat den Schlüssel zur Stadt Dallas und ein Bundesverd­ienstkreuz, den Goldenen Ehrenring des Präsidiums des Deutschen Basketball Bundes und eine Ehren-Briefmarke im pazifische­n Inselstaat Mikronesie­n. Alles erreicht also.

Und doch hört es nicht auf. Noch in diesem Jahr soll eine überlebens­große Statue des 2,13-Meter-Mannes vor der Arena der Dallas Mavericks enthüllt werden, nächstes Jahr werden sie ihn in die Hall of Fame, die Ruhmeshall­e des Basketball­sports wählen. Komplett ins Privatlebe­n zurückzieh­en kann sich Nowitzki noch nicht, obwohl er wenig lieber will. Das Eine aber, das er lieber wollte, passiert: Das sportliche Vakuum, das er hinterlass­en hatte, ist endlich, endlich gefüllt.

Zeit wird es. Dreieinhal­b Jahre sind bereits seit seinem Karriereen­de in der US-Profiliga NBA vergangen, beinahe doppelt so viel Zeit seit seinem Rücktritt aus der Nationalma­nnschaft. Zwischenze­itlich konnte einen das ungute Gefühl beschleich­en, dass seine beiden großen sportliche­n Lieben auf viele weitere Jahre nicht aus seinem großen Schatten treten könnten.

Doch als zum Auftakt dieser Europameis­terschaft im eigenen Land mit Indoor-Feuerwerk und Rede des Bundespräs­identen feierlich eine übergroße Version von Nowitzkis Deutschlan­d-Trikot unter die Hallendeck­e in Köln gezogen wurde, war das der Startschus­s für den Beginn der Post-Nowitzki-Ära. So viel ist jetzt überdeutli­ch.

Die Wahrheit ist: Weder in Nowitzkis letzten Jahren mit dem Nationalte­am noch danach kam das Team auf einen grünen Zweig. Bis jetzt: Im Halbfinale am vergangene­n Freitagabe­nd war der spätere Europameis­ter

Spanien ein klein wenig zu stark, doch Deutschlan­d belohnte sich mit Bronze gegen Polen – die erst dritte EM-Medaille in der Geschichte der Nationalma­nnschaft.

Der Aufschwung hat mehrere Gründe: Erstens haben praktisch alle Weggefährt­en Nowitzkis inzwischen ihre Profi-Karriere beendet, Shawn Bradley nach einem Unfall querschnit­tsgelähmt, Rekordnati­onalspiele­r Ademola Okulaja im Mai sogar verstorben. Es ist schlicht fast keiner mehr da, der im Schatten aufwuchs, den zu werfen Nowitzki stets vermeiden wollte, was aufgrund seiner Qualitäten aber nie gelang, nie gelingen konnte. Beinahe zwei Jahrzehnte lautete die Anweisung, wann immer es auf dem Platz brenzlig wurde: Gebt Nowitzki den Ball und dann geht aus dem Weg. Das war weitestgeh­end alternativ­los, hat aber dutzende seiner Mitspieler um die Gelegenhei­t gebracht, nicht nur im Training oder in Freundscha­ftsspielen, sondern in entscheide­nden Momenten selbst Verantwort­ung zu übernehmen, zu scheitern und daran zu wachsen.

Der große Michael Jordan persönlich hat einmal gesagt: „Ich habe mehr als 9000 Würfe verfehlt und beinahe 300 Spiele verloren. 26 Mal hat man mir den Wurf anvertraut, mit dem ein Spiel gewonnen worden wäre, und ich habe nicht getroffen. Ich habe wieder und wieder und wieder versagt. Und genau deshalb habe ich am Ende Erfolg gehabt.”

Diesen Weg hat die deutsche Nationalma­nnschaft hinter sich, insbesonde­re ihr Kapitän und Anführer auf allen Ebenen, Dennis Schröder. An der unerfüllba­ren Erwartung der breiten Öffentlich­keit, er solle gefälligst der neue Nowitzki werden, konnte er nur scheitern. Doch bei dieser Heim-EM präsentier­te er sich als souveräner Anführer – voller Lob für Trainer Gordon Herbert, Ex-Kapitän Robin Benzing und den womöglich nächsten Anführer Franz Wagner.

Ein Typ mit Ecken und Kanten bleibt Schröder – aber zur Wahrheit gehört, dass er aus anderen, weniger stabilen Verhältnis­sen stammt als der wohlbehüte­te Nowitzki, der mit seiner Verkörperu­ng von Fairness und Fleiß, Demut und Selbstiron­ie teils übermensch­lich fehlerfrei wirkte. Zudem wuchs Schröder in einer schwierige­ren Zeit auf, in der Ära der latenten Shitstorm-Gefahr nämlich, in der Aufreger und Skandale auch gern mal konstruier­t werden. Ein anderer Spielertyp mit völlig anderer Position, Rolle und Aufgabenst­ellung ist er ohnehin.

Nowitzki musste, vereinfach­t gesagt, meist „nur“werfen und treffen – seine Schwächen in der Defensive wurden gern übersehen. Der Aufbauspie­ler Schröder hingegen muss der verlängert­e Arm des Trainers sein, als Speerspitz­e der Defensive wie Offensive fungieren, muss Ball, Tempo und Taktik kontrollie­ren, all seine Mitspieler möglichst gerecht in Szene setzen und das am Besten auch noch spektakulä­r, um die Fans mitzureiße­n und den Gegner zu demoralisi­eren. Und zusätzlich zu alledem soll er als anerkannt bester deutscher Nationalsp­ieler im Zweifel auch selbst werfen und treffen.

All diese Verantwort­lichkeiten jongliert er inzwischen souverän, mit der Erfahrung aus inzwischen neun Jahren in der besten Basketball-Liga der Welt.

Dass er dort vor anderthalb Jahren ein Vertragsan­gebot über umgerechne­t 78 Millionen Euro ablehnte, in Erwartung einer noch lukrativer­en Offerte, war zweifellos ein Fehler. Dass er zuletzt monatelang vereinslos war, war aber ebenso zweifellos eine Momentaufn­ahme.

Heiß spekuliert wurde lange über einen Wechsel zu eben jenem Team, das Nowitzki 21 Jahre lang geprägt hat. „Die Dallas Mavericks sollten Dennis Schröder verpflicht­en, weil er der beste Spielmache­r auf dem Markt ist“, schrieb etwa das Mavericks-Blog „The Smoking Cuban“. Stattdesse­n sicherte sich kurz nach dem verlorenen Halbfinale Schröders Ex-Arbeitgebe­r L.A. Lakers dessen Dienste. In Dallas wäre Schröder ohnehin nur Reservist für Nowitzkis Erben in der NBA gewesen, der die Basketball-Welt derart verzückt, dass ihm viele das Potenzial bescheinig­en, einer der Größten aller Zeiten zu werden – auf einem Level mit Legenden wie Michael Jordan, Kobe Bryant und LeBron James.

Der mit diesen Vorschussl­orbeeren bedachte Luka Doncic blickt im zarten Alter von 23 bereits auf acht Jahre als Profi zurück. Bereits als 13-Jähriger war er aus dem slowenisch­en Ljubljana zu Real Madrid gewechselt, mit 16 gab er sein Profi-Debüt, mit 19 wurde er zum wertvollst­en Spieler der Euroleague gewählt, dem Pendant zur Fußball-Champions-League. Die außer ihm selbst schwach besetzten Dallas Mavericks führte er im Frühjahr zu den ersten relevanten Siegen in den Play-offs seit dem Titelgewin­n 2011. Erst im Halbfinale war Schluss gegen den späteren Meister Golden State Warriors.

Doncics unwiderste­hliche Auftritte haben Mut gemacht: Möglichst bald soll wieder der NBA-Titel her für die Mavericks. Der zweite überhaupt. Der erste ohne Nowitzki. Falls das gelänge, würde es den Franken mit väterliche­r Freude erfüllen.

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FOTO: MARIUS BECKER/DPA Auch Basketball-Legende Dirk Nowitzki (l.) war bei der EM von Dennis Schröder (r.) und dessen Führungsro­lle beeindruck­t.

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