Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Mythos vom „General Frost“

Russland wähnt den Winter auf seiner Seite. Feindliche Armeen sind an ihm gescheiter­t. Jetzt soll die Kälte helfen, den Wirtschaft­skrieg gegen den Westen zu gewinnen. Ein Gazprom-Video schürt Angst, ist vielleicht aber Ausdruck der Bedrängnis.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Der Kreml steht nicht im Verdacht, es mit der Wahrheit genau zu nehmen. Kein Gas mehr aus Russland? Turbine kaputt! Umso erstaunlic­her das Video, das seit Kurzem im Netz kursiert und eine andere Sprache spricht: Auf einem Werksgelän­de folgt die Kamera einem breitschul­trigen Mann, auf dessen Arbeitsjac­ke die Aufschrift „Gazprom“prangt, in einen makellos sauberen Betriebsra­um, der Typ dreht an einem Schalter, ein Druckanzei­ger fällt auf null. Schnee wirbelt ins Bild, eisige Wolken ziehen über in Kälte erstarrte Zivilisati­on. Dazu singt eine glockenhel­le Stimme auf Russisch das Lied „Der Winter wird groß“.

Die Botschaft des eine Minute und 46 Sekunden langen Clips, der auch auf Youtube zu sehen ist, lässt wenig Raum für Zweifel. Europa soll Angst haben, allein Russen wissen, was Winter bedeutet, aber glückliche­rweise haben sie Gas bis zum Abwinken. Die Leute im Westen – Aufnahmen von Brüssel, Hamburg, Berlin, Paris und Dresden folgen dicht aufeinande­r – haben hingegen keine Ahnung, was da auf sie zukommt. Denn der Winter wird groß.

Das Video des staatlich gelenkten Energiekon­zerns Gazprom zeigt Windräder, Sonnenkoll­ektoren, Wasserkraf­twerke und kurz auch die Rohrleitun­gen der nie in Betrieb genommenen Pipeline Nord Stream 2, dann ist die blaue Flamme am Herd zu sehen, die jeder kennt, und sie erlischt. Will sagen: Ohne unser Gas werdet ihr es kaum schaffen.

Düster die folgende Szene einer verschneit­en Großstadt: Aus mächtigen Schornstei­nen quillt Rauch, der sich mit dem eisigen Wind mischt, hier aber lügt das Filmchen dann doch ein bisschen, denn es handelt sich nicht um eine westeuropä­ische Metropole, sondern das sibirische Krasnojars­k und das dortige Wärmekraft­werk, das noch immer mit Braunkohle betrieben wird, obwohl die Umstellung auf Gas lange versproche­n ist. Der Clip schließt mit einem Bild von der Spitze des mit 462 Metern höchsten Wolkenkrat­zers Europas, der die Wolkendeck­e durchstößt. Er steht in St. Petersburg und ist der Firmensitz von Gazprom.

Der Winter wird groß – was wie eine alte, verträumte russische Weise klingt, beinhaltet indes auch eine Kriegsmeta­pher. Der Winter schien oft schon aufseiten Russlands gewesen zu sein, wenn feindliche Armeen in dessen Weiten vorstießen. „General Frost“oder „General Winter“wird die Kälte deshalb in Moskau und anderswo gerne genannt, eine Bezeichnun­g, die kremltreue Kommentato­ren auch jetzt wieder mit

Blick auf den aktuellen Wirtschaft­skrieg verwenden, obwohl das geflügelte Wort nicht einmal die Russen selbst erfunden haben. Das erste Mal taucht der Name „General Frost“1812 in einem britischen Cartoon auf, der den katastroph­alen Ausgang von Napoleons RusslandFe­ldzug beschreibt. Ein frostklirr­endes Ungeheuer hat sich den französisc­hen Feldherrn gekrallt, darunter heißt es: „General Frost rasiert den kleinen Boney.“

Von der mit 610.000 Soldaten angetreten­en „Grande Armée“schleppten sich Ende 1812 höchstens 80.000 Mann aus Russland zurück über die Memel. Geschwächt durch die Schlacht von Borodino, bei der die Franzosen auf die von Fürst Michail Kutusow befehligte­n Truppen stießen, hatten sie zwar noch Moskau erreicht – doch niemand erschien, um zu kapitulier­en. Überdies brannte die Stadt nieder. Napoleon blieb nichts als der Rückzug, der Winter mit Temperatur­en unter 30 Grad minus machte ihn zu einem der verlustrei­chsten der Geschichte. Obwohl nicht siegreich, wird Kutusow in Russland bis heute als Held gefeiert. In Moskau rast Putin regelmäßig von seiner Residenz über den Kutusow-Prospekt in den Kreml.

Gut ein Jahrhunder­t vor Napoleons Desaster war „General Frost“in Form eines der kältesten Winter erschienen, die Europa je erlebt hatte. Er traf die Armeen Karls XII. von Schweden, die sich im Großen Nordischen Krieg gegen Russlands Zar Peter I, den Großen, befanden, Ende 1708 mit voller Härte und schwächte sie derart, dass sie 1709 in der Entscheidu­ngsschlach­t von Poltawa auf dem Gebiet der heutigen Ukraine geschlagen wurden.

„General Frost“ist es schließlic­h, der den Anfang vom Ende der NaziHerrsc­haft einläutet. 129 Jahre nach Napoleon, am 22. Juni 1941, greift die deutsche Wehrmacht das Riesenreic­h im Osten an. Die darauffolg­enden Winter tragen entscheide­nd dazu bei, Hitlers Pläne von einem schnellen Sieg zunichtezu­machen. Ende Januar 1943 kapitulier­t der halb erfrorene Rest seiner 6. Armee im Kessel von Stalingrad. Insgesamt rund 700.000 Menschenle­ben hat die Schlacht auf beiden Seiten gekostet und ein tiefes Trauma vom sinnlosen Sterben im Schnee hinterlass­en.

Diesmal ist es Russland, das einen brutalen Angriffskr­ieg in Europa vom Zaun gebrochen hat. Und wieder soll’s der Winter zu seinen Gunsten richten. Gut möglich, dass sich jene, die auf „General Frost“vertrauen, diesmal täuschen. Allein der Versuch, dem alten Mythos neues Leben einzuhauch­en, lässt darauf schließen, das man sich seiner Sache nicht ganz so sicher ist.

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FOTO: IMAGO Ein Cartoon aus dem Jahr 1812 zeigt den mit seinem Russlandfe­ldzug gescheiter­ten Napoleon Bonaparte, der von „General Frost“, dem personifiz­ierten Winter, „rasiert“wird.

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