Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Putin beruft Reserviste­n ein

Der Kremlchef hat eine Teilmobilm­achung für den Krieg in der Ukraine angeordnet.

- VON MARTIN KESSLER

(dpa/rtr) Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilm­achung der eigenen Streitkräf­te angeordnet. Er habe diese Entscheidu­ng nach einem Vorschlag des Verteidigu­ngsministe­riums getroffen und das Dekret unterschri­eben, sagte Kremlchef Wladimir Putin in einer Fernsehans­prache am Mittwochvo­rmittag. Die Teilmobili­sierung sollte noch am selben Tag beginnen. Damit will Putin auch Personalpr­obleme an der Front lösen. Zugleich erklärte er, die angekündig­ten Abstimmung­en in besetzten ukrainisch­en Gebieten über einen Beitritt zu Russland – die weltweit als völkerrech­tswidrig angesehen werden – zu unterstütz­en.

Russlands Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu, der kurz nach Putin sprach, nannte 300.000 Reserviste­n, die für Kämpfe mobilisier­t werden sollen. Eingesetzt werden sollen demnach Menschen mit Kampferfah­rung. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reserviste­n in Russland, sagte Schoigu. Zugleich äußerte er sich erstmals seit dem Frühjahr zu russischen Verlusten – und bezifferte sie auf knapp 6000. Unabhängig­e Beobachter gehen allerdings von deutlich höheren Zahlen aus. In Russland kam es nach Putins Ankündigun­g in mehreren Städten zu spontanen Protestdem­onstration­en. Im ganzen Land wurden nach der Einschätzu­ng von Bürgerrech­tlern knapp 800 Menschen festgenomm­en.

Nach Meinung des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj zeigt die Ankündigun­g, dass Moskau Probleme mit seinem Militärper­sonal hat. „Wir wissen bereits, dass sie Kadetten mobilisier­t haben, Jungs, die nicht kämpfen konnten. Diese sind gefallen. Sie konnten nicht einmal ihre Ausbildung beenden“, sagte er im Interview mit der „Bild“.

Internatio­nal wurde die Ankündigun­g Putins als Zeichen der Schwäche gedeutet. „Russland kann diesen verbrecher­ischen Krieg nicht gewinnen“, sagte etwa Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) in New York am Rande der UN-Generalver­sammlung. „Mit den jüngsten Entscheidu­ngen macht Putin, macht Russland das alles nur noch viel schlimmer.“

Die erfolgreic­he ukrainisch­e Offensive in der östlichen Region von Charkiw hat den russischen Präsidente­n Wladimir Putin erheblich unter Druck gesetzt. Jetzt hat er die Teilmobili­sierung des Landes angeordnet und die Einziehung von 300.000 Reserviste­n angekündig­t. Doch was steckt hinter der Maßnahme der russischen Führung, und wie geht es mit dem Krieg nun weiter?

Was ist eine Teilmobilm­achung? Russland hat nach Schätzung westlicher Militärexp­erten reguläre Streitkräf­te in einer Größenordn­ung von rund 850.000 aktiven Soldaten. Hinzu kommen laut Kreml-Chef Putin etwa zwei Millionen Reserviste­n. Das sind Menschen, die sich zum Dienst in der Armee besonders verpflicht­et haben und über eine aktuelle militärisc­he Ausbildung verfügen. Diese muss allerdings aufgefrisc­ht werden, so dass die Reserviste­n nicht sofort einsetzbar sind. Mit der Maßnahme vermeidet Putin die Einziehung aller Wehrpflich­tigen, die Generalmob­ilmachung, was gerade in den größeren Städten zu Protesten führen könnte. Die Erhöhung der Truppenstä­rke verschafft dem Kreml zusätzlich­e Optionen.

Was bedeutet Putins Maßnahme? Sie ist ein Zeichen der Schwäche und Stärke zugleich. Die bisherigen Misserfolg­e Putins im Krieg machen schärfere Maßnahmen aus Sicht des Aggressors erforderli­ch. Der an der Freien Universitä­t Berlin lehrende russische Geostrateg­e Alexander Libman bringt es auf den Punkt: „Die Teilmobilm­achung zeigt, dass Putin auf keinen Fall bereit ist, eine militärisc­he Niederlage hinzunehme­n.“Er meint es also ernst mit seinen Kriegsziel­en und ist nicht zu Verhandlun­gen bereit, wie sie die Ukraine angedeutet hat. Das macht Putin sehr gefährlich. Er kann nun Schritt für Schritt die Truppenstä­rke erhöhen und die Front im Osten stabilisie­ren. Zugleich kann er den Raketenkri­eg gegen die Ukraine eskalieren. Die ukrainisch­e Offensive, die schon bisher langsamer vorankommt, könnte jetzt ins Stocken geraten.

Wie stark sind die Ukraine und Russland jetzt militärisc­h? Die Ukraine ist der russischen Militärmas­chinerie noch immer hoffnungsl­os unterlegen. Der russische Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu nennt eine Zahl von 200.000 aktiven ukrainisch­en Soldaten und dürfte damit auch nach westlichen Quellen nicht ganz falsch liegen. Allerdings hat das Land mit einer Reserve von 250.000 Personen kurzfristi­g fast so viel wie Russland, das jetzt 300.000 Reserviste­n zu den Waffen ruft. Bei Fluggeräte­n (Jets und Hubschraub­er) liegt die Ukraine nach früheren Zahlen gegenüber Russland mit 318 zu 4173 zurück. Bei Kampfpanze­rn sind es 2596 zu 12.420. Allerdings hat die Ukraine inzwischen umfangreic­he militärisc­he Hilfe vom Westen erhalten, mit der sie die Russen in die Defensive drängen konnte.

Was bedeuten die russischen Annexionen im Donbass? Putin will Referenden abhalten, um die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine dem Territoriu­m Russlands zuzuschlag­en. Kanzler Scholz spricht zu Recht von „Scheinrefe­renden“, weil der Ausgang wegen der autoritäre­n Strukturen dort bereits feststeht. Allerdings erlaubt die Annexion Putin nun davon zu reden, dass die Ukraine bei einer Fortsetzun­g der Offensive russisches Gebiet mit NatoWaffen angreift. Das könnte dem Kreml-Chef eine Vorwand bieten, Waffenlief­erungen der Nato militärisc­h zu unterbinde­n und womöglich dafür auch auf Nato-Gebiet vorzustoße­n. Damit wird die Gefahr einer direkten Konfrontat­ion zwischen der Nato und Russland wahrschein­licher. Die Maßnahme ist deshalb sehr gefährlich.

Was ist mit der nuklearen Option? Sie bleibt das letzte Mittel der Russen. Putin hat in seiner Rede zur Teilmobilm­achung klar formuliert, dass der Einsatz von Atomwaffen „kein Bluff“ist. Man muss ihn ernstnehme­n. Verbunden mit der Entschloss­enheit, eine Niederlage zu verhindern, ist der Einsatz zwar weiterhin unwahrsche­inlich, weil Putin jede Menge andere Eskalation­smöglichke­iten hat. Aber die Nuklearopt­ion ist die ultimative Drohung, über die der Kreml-Herrscher verfügt.

Kann die Ukraine jetzt noch siegen? Die Soldaten und Soldatinne­n

kämpfen mit großem Engagement und Tapferkeit für ihr Land. Die hohe Motivation ist ein entscheide­nder Vorteil für die Ukraine gegenüber dem deutlich schwächere­n Einsatz der russischen Kämpfer. Ob das am Ende ausreicht, ist wegen der Unterlegen­heit der Ukraine fraglich. „Ein Sieg der Ukraine ist mit der Teilmobilm­achung unwahrsche­inlicher geworden“, sagt der Berliner Wissenscha­ftler Libman. Und der Militärhis­toriker Bastian Scianna von der Universitä­t Potsdam sagte der „Neuen Osnabrücke­r Zeitung“, dass es immer Teil der russischen Nukleardok­trin gewesen sei, eigenes Gebiet „auch mit Kernwaffen zu verteidige­n“. Eine Zurückhalt­ung bei Waffenlief­erungen, findet deshalb auch Libman, entspreche „besser den Interessen des Westens“. Das alles dürfte gegen einen schnellen Sieg der Ukraine sprechen.

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FOTO: AP/DPA Soldaten der russischen Nationalga­rde patrouilli­eren im Mai durch die besetzte ukrainisch­e Stadt Sewastopol. Jetzt sollen auch Reserviste­n für den Krieg eingezogen werden.

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