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Putin beruft Reservisten ein
Der Kremlchef hat eine Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine angeordnet.
(dpa/rtr) Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte Kremlchef Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am Mittwochvormittag. Die Teilmobilisierung sollte noch am selben Tag beginnen. Damit will Putin auch Personalprobleme an der Front lösen. Zugleich erklärte er, die angekündigten Abstimmungen in besetzten ukrainischen Gebieten über einen Beitritt zu Russland – die weltweit als völkerrechtswidrig angesehen werden – zu unterstützen.
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der kurz nach Putin sprach, nannte 300.000 Reservisten, die für Kämpfe mobilisiert werden sollen. Eingesetzt werden sollen demnach Menschen mit Kampferfahrung. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reservisten in Russland, sagte Schoigu. Zugleich äußerte er sich erstmals seit dem Frühjahr zu russischen Verlusten – und bezifferte sie auf knapp 6000. Unabhängige Beobachter gehen allerdings von deutlich höheren Zahlen aus. In Russland kam es nach Putins Ankündigung in mehreren Städten zu spontanen Protestdemonstrationen. Im ganzen Land wurden nach der Einschätzung von Bürgerrechtlern knapp 800 Menschen festgenommen.
Nach Meinung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zeigt die Ankündigung, dass Moskau Probleme mit seinem Militärpersonal hat. „Wir wissen bereits, dass sie Kadetten mobilisiert haben, Jungs, die nicht kämpfen konnten. Diese sind gefallen. Sie konnten nicht einmal ihre Ausbildung beenden“, sagte er im Interview mit der „Bild“.
International wurde die Ankündigung Putins als Zeichen der Schwäche gedeutet. „Russland kann diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen“, sagte etwa Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in New York am Rande der UN-Generalversammlung. „Mit den jüngsten Entscheidungen macht Putin, macht Russland das alles nur noch viel schlimmer.“
Die erfolgreiche ukrainische Offensive in der östlichen Region von Charkiw hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin erheblich unter Druck gesetzt. Jetzt hat er die Teilmobilisierung des Landes angeordnet und die Einziehung von 300.000 Reservisten angekündigt. Doch was steckt hinter der Maßnahme der russischen Führung, und wie geht es mit dem Krieg nun weiter?
Was ist eine Teilmobilmachung? Russland hat nach Schätzung westlicher Militärexperten reguläre Streitkräfte in einer Größenordnung von rund 850.000 aktiven Soldaten. Hinzu kommen laut Kreml-Chef Putin etwa zwei Millionen Reservisten. Das sind Menschen, die sich zum Dienst in der Armee besonders verpflichtet haben und über eine aktuelle militärische Ausbildung verfügen. Diese muss allerdings aufgefrischt werden, so dass die Reservisten nicht sofort einsetzbar sind. Mit der Maßnahme vermeidet Putin die Einziehung aller Wehrpflichtigen, die Generalmobilmachung, was gerade in den größeren Städten zu Protesten führen könnte. Die Erhöhung der Truppenstärke verschafft dem Kreml zusätzliche Optionen.
Was bedeutet Putins Maßnahme? Sie ist ein Zeichen der Schwäche und Stärke zugleich. Die bisherigen Misserfolge Putins im Krieg machen schärfere Maßnahmen aus Sicht des Aggressors erforderlich. Der an der Freien Universität Berlin lehrende russische Geostratege Alexander Libman bringt es auf den Punkt: „Die Teilmobilmachung zeigt, dass Putin auf keinen Fall bereit ist, eine militärische Niederlage hinzunehmen.“Er meint es also ernst mit seinen Kriegszielen und ist nicht zu Verhandlungen bereit, wie sie die Ukraine angedeutet hat. Das macht Putin sehr gefährlich. Er kann nun Schritt für Schritt die Truppenstärke erhöhen und die Front im Osten stabilisieren. Zugleich kann er den Raketenkrieg gegen die Ukraine eskalieren. Die ukrainische Offensive, die schon bisher langsamer vorankommt, könnte jetzt ins Stocken geraten.
Wie stark sind die Ukraine und Russland jetzt militärisch? Die Ukraine ist der russischen Militärmaschinerie noch immer hoffnungslos unterlegen. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu nennt eine Zahl von 200.000 aktiven ukrainischen Soldaten und dürfte damit auch nach westlichen Quellen nicht ganz falsch liegen. Allerdings hat das Land mit einer Reserve von 250.000 Personen kurzfristig fast so viel wie Russland, das jetzt 300.000 Reservisten zu den Waffen ruft. Bei Fluggeräten (Jets und Hubschrauber) liegt die Ukraine nach früheren Zahlen gegenüber Russland mit 318 zu 4173 zurück. Bei Kampfpanzern sind es 2596 zu 12.420. Allerdings hat die Ukraine inzwischen umfangreiche militärische Hilfe vom Westen erhalten, mit der sie die Russen in die Defensive drängen konnte.
Was bedeuten die russischen Annexionen im Donbass? Putin will Referenden abhalten, um die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine dem Territorium Russlands zuzuschlagen. Kanzler Scholz spricht zu Recht von „Scheinreferenden“, weil der Ausgang wegen der autoritären Strukturen dort bereits feststeht. Allerdings erlaubt die Annexion Putin nun davon zu reden, dass die Ukraine bei einer Fortsetzung der Offensive russisches Gebiet mit NatoWaffen angreift. Das könnte dem Kreml-Chef eine Vorwand bieten, Waffenlieferungen der Nato militärisch zu unterbinden und womöglich dafür auch auf Nato-Gebiet vorzustoßen. Damit wird die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland wahrscheinlicher. Die Maßnahme ist deshalb sehr gefährlich.
Was ist mit der nuklearen Option? Sie bleibt das letzte Mittel der Russen. Putin hat in seiner Rede zur Teilmobilmachung klar formuliert, dass der Einsatz von Atomwaffen „kein Bluff“ist. Man muss ihn ernstnehmen. Verbunden mit der Entschlossenheit, eine Niederlage zu verhindern, ist der Einsatz zwar weiterhin unwahrscheinlich, weil Putin jede Menge andere Eskalationsmöglichkeiten hat. Aber die Nuklearoption ist die ultimative Drohung, über die der Kreml-Herrscher verfügt.
Kann die Ukraine jetzt noch siegen? Die Soldaten und Soldatinnen
kämpfen mit großem Engagement und Tapferkeit für ihr Land. Die hohe Motivation ist ein entscheidender Vorteil für die Ukraine gegenüber dem deutlich schwächeren Einsatz der russischen Kämpfer. Ob das am Ende ausreicht, ist wegen der Unterlegenheit der Ukraine fraglich. „Ein Sieg der Ukraine ist mit der Teilmobilmachung unwahrscheinlicher geworden“, sagt der Berliner Wissenschaftler Libman. Und der Militärhistoriker Bastian Scianna von der Universität Potsdam sagte der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, dass es immer Teil der russischen Nukleardoktrin gewesen sei, eigenes Gebiet „auch mit Kernwaffen zu verteidigen“. Eine Zurückhaltung bei Waffenlieferungen, findet deshalb auch Libman, entspreche „besser den Interessen des Westens“. Das alles dürfte gegen einen schnellen Sieg der Ukraine sprechen.