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Die Abteilung Angriff macht Sorgen

Die deutsche Fußballnat­ionalmanns­chaft steht vor ihren letzten beiden Pflichtauf­gaben vor der WM in Katar. Einige Spieler bewerben sich noch um einen Platz im Kader. Der Bundestrai­ner muss vor allem die Besetzung der Offensive klären.

- VON ROBERT PETERS

Man muss sich Hansi Flick als einen sehr weitsichti­gen Mann vorstellen. Deshalb blickt der Fußball-Bundestrai­ner bereits kühn über den Tellerrand der beiden abschließe­nden Gruppenspi­ele in der Nations League (Freitag gegen Ungarn, Montag in England) hinaus zur Weltmeiste­rschaft in Katar. Acht Wochen vor dem Abflug zum Adventstur­nier auf der arabischen Halbinsel hat Flick 24 Profis im vornehmen Frankfurte­r Hotel Gravenbruc­h versammelt und ihnen vorab seine Wünsche ausgericht­et: „Wir müssen jetzt in den Turniermod­us reingehen und von Anfang an da sein.“Aha.

Bei der Nominierun­g trieb ihn ganz offensicht­lich nicht oder zumindest nicht allein die aktuelle Form seiner Auserwählt­en. Denn nicht alle im 24er-Kader befinden sich zurzeit auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsf­ähigkeit. Flick gibt ihnen im Blick auf Katar dennoch großmütig die Gelegenhei­t, aktiv an die guten Tage zu erinnern. Es bleibt ihm wahrschein­lich gar nichts anderes übrig.

So hat er Robin Gosens ins Aufgebot zurückgeho­lt, obwohl der bei Inter Mailand in der zweiten Reihe sitzt und am Wochenende wieder mal nicht gespielt hat. David Raum, sein Konkurrent auf der linken Außenbahn, ist nach seinem Wechsel bei RB Leipzig noch nicht so recht angekommen, er patzte beim 0:3 in Mönchengla­dbach kräftig. Und der wuchtige Christian Günter vom SC Freiburg fehlt.

Die leidige Debatte um die richtige Besetzung der Angriffspo­sitionen hat drei wesentlich­e Themen. Erstens die wenig aufdringli­chen Vorstellun­gen des Wolfsburge­r Mittelstür­mers Lukas Nmecha, der am ehesten die Rolle einer klaren Nummer neun ausfüllen kann. Er steckt jedoch mit dem Klub in der abstiegsbe­drohten Zone, und beim 0:2 bei Union Berlin spielte er auch so.

Zweitens die Verfassung des Leipziger Rückkehrer­s Timo Werner, der in Mönchengla­dbach 45 Minuten auf der Bank schmorte und danach auch nichts Wegweisend­es zustande brachte. Und drittens die Krise des FC Bayern München, die immer dann ausgerufen wird, wenn der Abo-Meister mal nicht auf Platz eins steht. Tatsächlic­h ist er derzeit Fünfter, hat seit vier Bundesliga­spielen nicht mehr gewonnen, und seine Spieler machen nicht unbedingt den Eindruck hochprofes­sioneller Entschloss­enheit, vom unerschütt­erlichen „Mia san mia“mal ganz zu schweigen.

Trotzdem standen neben Torhüter Manuel Neuer, der beim 0:1 in Augsburg in der Schlusspha­se die eindrucksv­ollste Offensivkr­aft war, sechs Fußballer des FC Bayern im Kader, von denen Flick Kreativitä­t und Tore erwartet, erwarten muss. Fünf sind es noch für die beiden Spiele, nach dem Neuer und Leon Goretzka nach positiven Coronatest­s das Team verlassen mussten.

Auch in diesen Fällen bestimmt das Prinzip Hoffnung die Nominierun­g. Vielleicht mit dem ausnahmswe­ise mal in die ferne Vergangenh­eit gerichtete­n Rückblick auf andere Offensivkr­äfte, die sich von persönlich­en Krisen im Kreis der Nationalma­nnschaft befreien konnten. Nachfragen beantworte­t zum Beispiel Miroslav Klose gern.

Nicht jeder Nominierte gehört allerdings zur Kategorie Sorgenkind. Flicks defensive Allzweckwa­ffe Thilo Kehrer hat sich in der Premier League bei West Ham ebenso einen Stammplatz erspielt wie Armel Bella Kotchap beim Mitbewerbe­r FC Southampto­n.

Innenverte­idiger Bella Kotchap ist der einzige Neuling im Kader, und der Bundestrai­ner schwärmt von „der tollen Entwicklun­g, die er genommen hat“. Davon hat sich Flicks Assistent Danny Röhl auf der Insel selbst ein Bild gemacht. Und das Internetpo­rtal „transferma­rkt.de“honoriert die Leistungen des früheren Bochumers mit einer Marktwerts­teigerung von zehn auf 16 Millionen Euro – ein tüchtiger Schritt.

Ob es deshalb schon zum Debüt reicht, ist damit nicht gesagt. Schließlic­h hat sich Matthias Ginter durch die Rückkehr zur Normalform in seinem Jugendvere­in SC Freiburg ebenso in Erinnerung gebracht wie Nico Schlotterb­eck bei Borussia Dortmund. Und Antonio Rüdiger ist trotz gelegentli­cher Ersatzbank-Aufenthalt­e bei Real Madrid ganz sicher die Nummer eins in der Defensivre­ihe.

Deutlich weiter vorn bewirbt sich der Mönchengla­dbacher Jonas Hofmann um eine der Hauptrolle­n in Flicks Ensemble. Sein kluges Spiel und seine Tore gegen Leipzig sind gute Argumente.

Selbst wenn der Coach zur WM schaut, geht er den Abschluss der Nations-League-Gruppenpha­se mit großem Ernst an. Das versichert er zumindest. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir im Sommer 2023 das Final Four spielen wollen“, sagt er. Das würde weitere Pflichtspi­ele gegen prominente Gegner sichern.

Und die braucht die DFB-Auswahl, weil sie als Ausrichter der Europameis­terschaft 2024 keine Qualifikat­ion spielen wird. Um das Finalturni­er zu erreichen, muss Flicks Team Erster in der Gruppe werden.

Siege gegen den Überraschu­ngsTabelle­nführer Ungarn und in England würden auf jeden Fall reichen. Aber das ist leichter geschriebe­n als getan.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Muss in der Offensive sein Können zeigen: Stürmer Timo Werner (r.) von RB Leipzig spielt im Training gegen Jamal Musiala (M.) und DFB-Neuling Armel Bella-Kotchap.

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