Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Hundert Jahre Inflationsangst
Die massive Geldentwertung 1923 ließ ganze Schichten verarmen, machte einige zu Superreichen und untergrub das Fundament der ersten deutschen Demokratie. Was wir daraus für 2023 lernen können.
Es gibt Ereignisse, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingraben. Der japanische Überfall auf die US-Flotte in Pearl Harbor 1941 ist noch heute ein amerikanisches Trauma. Die Hungersnot in der Ukraine Anfang der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zählt dazu. Und die Niederlage Frankreichs gegen NS-Deutschland im Jahr 1940 in nur wenigen Wochen prägt selbst heute die Außenpolitik von Paris. Ein zentrales deutsches Trauma ist die Hyperinflation des Jahres 1923.
Hundert Jahre wird das Ereignis nun alt, und es stellte in Deutschland alles bisher Erlebte in der Wirtschaftsgeschichte in den Schatten. Die Preise waren bis zum 14. November 1923, dem Vortag der Währungsreform, 1,26 Billionen Mal höher als 1913. Die jährliche Inflationsrate stand bei 182 Milliarden Prozent. Der Kurs zum wertstabilen Dollar erreichte den astronomischen Wert von 4,25 Billionen Reichsmark. Die Geldscheine mit Millionen- und Milliardenaufdrucken sind noch heute eindrucksvoll anzusehen. Es war in Deutschland mehr Geld im Umlauf, als der Atlantik an Liter Wasser enthält. „Eine Inflation ist einen Massen-Vorgang“, schrieb der Schriftsteller Elias Canetti, der die Geldentwertung als junger Mann in Frankfurt erlebte: „Der Mensch fühlt sich so schlecht wie das Geld, das immer schlechter wird. Und alle fühlen sich auch zusammen ebenso wertlos.“
Die Folgen waren fatal. Die Besitzer von Sparbüchern, Geldvermögen oder Staatsanleihen verloren ihre gesamte Habe. Wer ein Haus oder einen bedeutenden Betrieb hatte, kam weitgehend ungeschädigt davon. Die großen Konzerne, die ihre Preise erhöhen konnten, verzeichneten sogar gewaltige Gewinne. Die Arbeiter hatten fast die Hälfte ihrer realen Wochenlöhne verloren, die Zahl der erwerbslosen Gewerkschaftsmitglieder stieg auf knapp ein Drittel. Kurz: Eine gesamte Volkswirtschaft wurde in wenigen Monaten so auf den Kopf gestellt wie nie zuvor. Armut und Reichtum prallten in einer Weise aufeinander, die nach der Industrialisierung in Deutschland in dieser Weise unbekannt war.
Das Trauma begleitet die Deutschen bis heute. Zumal sie nach dem deutschen Angriff und der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg erneut ihre Spareinlagen im Verhältnis eins zu zehn reduzieren mussten. Zwei Währungsreformen in nur 25 Jahren machten die Deutschen zu einem von Inflationsangst geprägten Volk, obwohl seit über einem Menschenalter die Währung im Großen und Ganzen stabil ist – trotz der jüngsten Preissteigerungsraten in zweistelliger Höhe.
Wie kam es zu dieser massiven Geldentwertung in den Anfangsjahren der demokratischen Weimarer Republik? Der wichtigste Grund ist nach wie vor in der unsoliden Finanzierung des Ersten Weltkriegs durch das autoritäre Kaiserreich zu suchen. Auf 400 Prozent der Wirtschaftsleistung war die Verschuldung des Deutschen Reichs bis 1918 gestiegen, ein Drittel davon in kurzfristigen Schatzwechseln, die sofort in Geld umgetauscht werden konnten.
Doch das war es nicht allein. Die Reichsregierungen ab 1919, als die Weimarer Verfassung in Kraft trat, versuchten, mit üppigen Tarifabschlüssen die Angestellten und Beamten auf die Seite der Demokratie zu ziehen, was nur teilweise gelang. Hinzu kamen die gewaltigen Reparationsleistungen an die Alliierten, die sich zwischen 1921 und 1922 auf ein Drittel der deutschen Staatsausgaben bezogen. Das alles zahlte der Staat mit gedrucktem Geld. „Im Grund war die deutsche Hyperinflation eine Fehlkalkulation“,
schrieb der renommierte Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson in diesem Jahrtausend. Die Fehlkalkulation kostete am Ende Deutschland die Demokratie und brachte durch die Nazi-Gewaltherrschaft unendliches Leid über die Welt.
Der deutsche Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl, der an der renommierten britischen Ökonomen-Schmiede London School of Economics lehrt, sieht die deutsche Inflationsangst als ständige Begleitmusik der Politik. Dabei lehnt er den eigentlichen Begriff ab und spricht lieber vom „Stabilitätsvertrauen“der Deutschen. Danach fühlen sich die Menschen hierzulande erst sicher, wenn sie ihre nach Möglichkeit wenig schwankenden Wertpapiere unter der Obhut einer starken Zentralbank sehen. Kein Wunder, dass Rettungskäufe der Notenbank für Anleihen hochverschuldeter Staaten eher skeptisch gesehen werden. Die EZB hat die Rolle eines Stabilitätsankers in den Augen der Bevölkerung nur zum Teil eingenommen, was von vielen deutschen Wirtschaftswissenschaftlern zusätzlich befeuert wird. So wetterte ausgerechnet der einstige Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, gegen Instrumente seiner früheren Bank, die es ihr erlauben, Staatspapiere schwächelnder Euro-Staaten aufzukaufen, um deren Position an den Finanzmärkten zu sichern. „Das Schwert des Damokles hängt über der Geldpolitik“, schrieb er im Sommer in der Zeitschrift „The International Economy“, als die Inflationsraten in der Eurozone und gerade auch in Deutschland scharf stiegen: „Die hohe Verschuldung einzelner Mitgliedstaaten gefährdet ihren Erfolg und ihre Stabilität.“
Da ist es wieder, das Stabilitätsvertrauen, das auch für die zweite deutsche Demokratie so wesentlich ist. Gerade wie die EZB mit Inflationsraten von zehn Prozent und mehr umgeht, wird ihr Renommee in der deutschen Bevölkerung entscheidend prägen. Der endgültige Test bei den „inflationsängstlichen“Deutschen steht noch aus.
„Der Mensch fühlt sich so schlecht wie das Geld, das immer schlechter wird“Elias Canetti Schriftsteller