Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Jedem vierten Kind droht jetzt Armut“
Der Präsident des Kinderschutzbundes beklagt die schlechtere Gesundheitsversorgung in sozialen Brennpunkten. Er erläutert, warum Bürgergeld und Mindestlohn Familien in ihrer Not kaum helfen.
Auch wir berichten über überfüllte Kinderarztpraxen, ist die Versorgung überhaupt noch gewährleistet?
Das Problem ist, dass wir ein unglaubliches Stadt-Land-Gefälle haben. Es gibt Bereiche im Sauerland oder in der Eifel, da müssen Leute dann 50 bis 100 Kilometer fahren, um den nächsten Kinderarzt zu erreichen. Und wir haben innerhalb der Städte ein sehr deutliches Gefälle zwischen gut situierten Stadtteilen und sozialen Brennpunkten. Das gleiche gilt für Kinderkliniken. Es kann nicht sein, dass Eltern mit einem Notfall abgewiesen werden und selbst ein anderes Krankenhaus aufsuchen müssen – so etwas kann bei guter Organisation vermieden werden.
Sie haben ein Notprogramm für Kinderkliniken vorgeschlagen. Was könnte das bewirken?
Es soll die Notlage entschärfen mithilfe von Ärzten und Pflegekräften, die aber dann anderswo fehlen. Das Grundproblem wird das aber nicht lösen, Kinderpflege verlangt eine andere Ausbildung und viel mehr Zeitaufwand. Fachleute sagen: Die Pflege eines Kindes benötigt etwa 30 Prozent mehr Zeit als die eines Erwachsenen. Das Fallpauschalensystem bildet das überhaupt nicht ab. Die Mittel dafür fehlen – und das nicht erst seit heute.
Ein weiteres Problem ist die Arzneimittelknappheit, etwa bei Fieber
säften. Reichen die Pläne von Karl Lauterbach?
Das ganze Arzneimittelsystem ist reformbedürftig. Nicht in dem Sinne, dass Medikamente überall in Supermärkten zu kaufen sein sollten und Apotheken abgeschafft werden – die Beratung ist schon wichtig. Ich rate dringend davon ab, Kinderarzneimittel aus Not im Internet zu bestellen.
Familien trifft auch die Inflation hart – braucht es eine neue Definition für Kinderarmut?
Es gibt ohnehin verschiedene Definitionen, die teilweise zweifelhaft sind. In Deutschland gilt als armutsgefährdet, wer in einem Haushalt lebt, in dem das Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) beträgt. Demnach sind 21 Prozent der Kinder von Armut betroffen, noch vor zehn Jahren waren es 18 Prozent. 20 Jahre zuvor war es weniger als 13. Wir haben eine kontinuierliche Steigerung der Kinderarmut in unserem Land. Wenn nicht endlich etwas geschieht, wird 2023 jedes vierte Kind von Armut betroffen sein.
Was muss man dem entgegensetzen?
Es muss ein System in Zeiten der Inflation geben, die Regelsätze früher zu erhöhen. Für jedes anspruchsberechtigte Kind schlage ich einen Sofortzuschlag von 100 Euro vor.
Führen Bürgergeld und Mindestlohn nicht zu einer spürbaren Entlastung?
Der Mindestlohn ist durch die Inflation ja bereits egalisiert, mit dem Bürgergeld wird 2023 das Gleiche passieren. Bei der ganzen Debatte ist außer Acht gelassen worden, dass betroffene Eltern ja ohnehin zu den „working poor“, also den arbeitenden Armen gehören. Der Mindestlohn reicht für Ledige, er reicht nicht für Menschen mit Kindern. Rein rechnerisch müsste für jedes Kind der Mindestlohn um drei Euro steigen, damit das Geld reicht. Das geht natürlich nicht. Deshalb halten wir eine Kindergrundsicherung für die beste Lösung. Dabei soll ein Existenzminimum von 700 Euro pro Kind gelten, das mit steigendem Einkommen bis auf die Höhe des Kindergelds abschmilzt.
Mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine sind inzwischen in Deutschland, darunter knapp 200.000 Schulkinder, wie bewerten Sie die Lage dieser Kinder?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche leben ja in Zelten, manche in Notunterkünften, andere sind von deutschen Familien aufgenommen worden. Die Hilfsbereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern ist groß, dafür kann man nur herzlich danken. Was die Integration erleichtern würde, wäre etwas mehr Flexibilität, die Eltern dieser Kinder in den Arbeitsmarkt einzubinden. Unter ihnen gibt es zum Beispiel auch Lehrer und Lehrerinnen, die helfen könnten bei der Eingliederung.
Gibt es einen Wettbewerb zwischen diesen Geflüchteten und solchen, die hier schon länger leben?
Wir dürfen niemanden gegeneinander ausspielen. Wir müssen jedes Kind unterstützen, ob mit Migrationshintergrund, mit Fluchtgeschichte oder von Armut betroffen. Jedes Kind braucht eine faire Chance auf eine gute Zukunft. Das steht für sich. Hinzukommt – und das müssten Ökonomen eigentlich jeden Tag predigen – dass wir dem kommenden Fachkräftemangel nur begegnen können, wenn wir alle Talente fördern.
Die Pandemie scheint – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – überwunden. Die Kinder
haben in dieser Krise besonders gelitten, weil soziale Kontakte fehlten und das Lernen zu kurz kam. Gibt es eine „verlorene Generation“?
Da möchte ich ausdrücklich widersprechen: Die Kinder haben unglaublich viel geleistet. Diese Generation kann zum Teil besser mit den digitalen Möglichkeiten umgehen als die ältere Generation. Und sie haben gelernt, selbstständig zu lernen – das ist doch das eigentliche Ziel der Schullaufbahn, die Anforderung des ganzen späteren Lebens. Und dennoch haben Sie natürlich Recht: Die Kinder waren die Ersten, deren Leben eingeschränkt wurden und die Letzten, die wieder auf Klassenfahrten fahren durften. Das ist bitter und das darf sich nicht wiederholen.
Sind Kinder und Jugendliche in unserem demokratischen System ausreichend vertreten? Was halten Sie von der Diskussion um die Senkung des Wahlalters?
Ich hatte schon mal gesagt, das Beste ist, wir senken das Wahlrecht auf 16 oder 14 Jahre ab. Und sollte ein Kind vorher schon wählen wollen, dann muss es einen Antrag stellen, damit es ins Wählerverzeichnis aufgenommen wird. Dann weiß ich, es kann auch wählen, wenn es den Antrag stellen kann. Insgesamt wünsche ich mir, dass man die Kinder bei allen Entscheidungen stärker im Blick hat. Das fängt schon bei den Meinungsumfragen an. Da wäre es schon gut und richtig, junge
Menschen einzubeziehen. Schließlich werden auf Basis solcher Umfragen vielfältige Entscheidungen zu Lasten der folgenden Generationen getroffen.
Also unterstützen Sie die Aktionen der „Letzten Generation“?
Ich würde mich nicht auf die Straße kleben. Soweit würde ich sicher nicht gehen. Ich sehe aber den Einsatz und freue mich über das Engagement für den Klimaschutz, auch wenn ich nicht jedes Mittel unterstütze. Gleichzeitig finde ich es ungeheuerlich, die jungen Klimaaktivisten mit der RAF zu vergleichen.
Was sind Ihre Wünsche für 2023?
Dass wir die Kinder im Blick behalten. Dass Politik und Gesellschaft trotz Krieg und Krisen ihrer Verantwortung für die nächste Generation gerecht werden. Wer nur auf die Stimmung der Wählerinnen und Wähler guckt oder auf Parteiinteressen, hat nicht die richtige Haltung. Mir ist bewusst, dass in dieser schweren Zeit nicht alle Versprechen gehalten werden können. Mich freut deshalb, dass mancher bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen. Das tut Not – gerade beim Kampf gegen die Kinderarmut. Wir brauchen im Einsatz für die Kinder eine umfassende Einigkeit über Parteigrenzen hinweg.