Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Jedem vierten Kind droht jetzt Armut“

Der Präsident des Kinderschu­tzbundes beklagt die schlechter­e Gesundheit­sversorgun­g in sozialen Brennpunkt­en. Er erläutert, warum Bürgergeld und Mindestloh­n Familien in ihrer Not kaum helfen.

- JULIA RATHCKE UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Auch wir berichten über überfüllte Kinderarzt­praxen, ist die Versorgung überhaupt noch gewährleis­tet?

Das Problem ist, dass wir ein unglaublic­hes Stadt-Land-Gefälle haben. Es gibt Bereiche im Sauerland oder in der Eifel, da müssen Leute dann 50 bis 100 Kilometer fahren, um den nächsten Kinderarzt zu erreichen. Und wir haben innerhalb der Städte ein sehr deutliches Gefälle zwischen gut situierten Stadtteile­n und sozialen Brennpunkt­en. Das gleiche gilt für Kinderklin­iken. Es kann nicht sein, dass Eltern mit einem Notfall abgewiesen werden und selbst ein anderes Krankenhau­s aufsuchen müssen – so etwas kann bei guter Organisati­on vermieden werden.

Sie haben ein Notprogram­m für Kinderklin­iken vorgeschla­gen. Was könnte das bewirken?

Es soll die Notlage entschärfe­n mithilfe von Ärzten und Pflegekräf­ten, die aber dann anderswo fehlen. Das Grundprobl­em wird das aber nicht lösen, Kinderpfle­ge verlangt eine andere Ausbildung und viel mehr Zeitaufwan­d. Fachleute sagen: Die Pflege eines Kindes benötigt etwa 30 Prozent mehr Zeit als die eines Erwachsene­n. Das Fallpausch­alensystem bildet das überhaupt nicht ab. Die Mittel dafür fehlen – und das nicht erst seit heute.

Ein weiteres Problem ist die Arzneimitt­elknapphei­t, etwa bei Fieber

säften. Reichen die Pläne von Karl Lauterbach?

Das ganze Arzneimitt­elsystem ist reformbedü­rftig. Nicht in dem Sinne, dass Medikament­e überall in Supermärkt­en zu kaufen sein sollten und Apotheken abgeschaff­t werden – die Beratung ist schon wichtig. Ich rate dringend davon ab, Kinderarzn­eimittel aus Not im Internet zu bestellen.

Familien trifft auch die Inflation hart – braucht es eine neue Definition für Kinderarmu­t?

Es gibt ohnehin verschiede­ne Definition­en, die teilweise zweifelhaf­t sind. In Deutschlan­d gilt als armutsgefä­hrdet, wer in einem Haushalt lebt, in dem das Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) beträgt. Demnach sind 21 Prozent der Kinder von Armut betroffen, noch vor zehn Jahren waren es 18 Prozent. 20 Jahre zuvor war es weniger als 13. Wir haben eine kontinuier­liche Steigerung der Kinderarmu­t in unserem Land. Wenn nicht endlich etwas geschieht, wird 2023 jedes vierte Kind von Armut betroffen sein.

Was muss man dem entgegense­tzen?

Es muss ein System in Zeiten der Inflation geben, die Regelsätze früher zu erhöhen. Für jedes anspruchsb­erechtigte Kind schlage ich einen Sofortzusc­hlag von 100 Euro vor.

Führen Bürgergeld und Mindestloh­n nicht zu einer spürbaren Entlastung?

Der Mindestloh­n ist durch die Inflation ja bereits egalisiert, mit dem Bürgergeld wird 2023 das Gleiche passieren. Bei der ganzen Debatte ist außer Acht gelassen worden, dass betroffene Eltern ja ohnehin zu den „working poor“, also den arbeitende­n Armen gehören. Der Mindestloh­n reicht für Ledige, er reicht nicht für Menschen mit Kindern. Rein rechnerisc­h müsste für jedes Kind der Mindestloh­n um drei Euro steigen, damit das Geld reicht. Das geht natürlich nicht. Deshalb halten wir eine Kindergrun­dsicherung für die beste Lösung. Dabei soll ein Existenzmi­nimum von 700 Euro pro Kind gelten, das mit steigendem Einkommen bis auf die Höhe des Kindergeld­s abschmilzt.

Mehr als eine Million Geflüchtet­e aus der Ukraine sind inzwischen in Deutschlan­d, darunter knapp 200.000 Schulkinde­r, wie bewerten Sie die Lage dieser Kinder?

Das ist ganz unterschie­dlich. Manche leben ja in Zelten, manche in Notunterkü­nften, andere sind von deutschen Familien aufgenomme­n worden. Die Hilfsberei­tschaft von Bürgerinne­n und Bürgern ist groß, dafür kann man nur herzlich danken. Was die Integratio­n erleichter­n würde, wäre etwas mehr Flexibilit­ät, die Eltern dieser Kinder in den Arbeitsmar­kt einzubinde­n. Unter ihnen gibt es zum Beispiel auch Lehrer und Lehrerinne­n, die helfen könnten bei der Einglieder­ung.

Gibt es einen Wettbewerb zwischen diesen Geflüchtet­en und solchen, die hier schon länger leben?

Wir dürfen niemanden gegeneinan­der ausspielen. Wir müssen jedes Kind unterstütz­en, ob mit Migrations­hintergrun­d, mit Fluchtgesc­hichte oder von Armut betroffen. Jedes Kind braucht eine faire Chance auf eine gute Zukunft. Das steht für sich. Hinzukommt – und das müssten Ökonomen eigentlich jeden Tag predigen – dass wir dem kommenden Fachkräfte­mangel nur begegnen können, wenn wir alle Talente fördern.

Die Pandemie scheint – zumindest in der öffentlich­en Wahrnehmun­g – überwunden. Die Kinder

haben in dieser Krise besonders gelitten, weil soziale Kontakte fehlten und das Lernen zu kurz kam. Gibt es eine „verlorene Generation“?

Da möchte ich ausdrückli­ch widersprec­hen: Die Kinder haben unglaublic­h viel geleistet. Diese Generation kann zum Teil besser mit den digitalen Möglichkei­ten umgehen als die ältere Generation. Und sie haben gelernt, selbststän­dig zu lernen – das ist doch das eigentlich­e Ziel der Schullaufb­ahn, die Anforderun­g des ganzen späteren Lebens. Und dennoch haben Sie natürlich Recht: Die Kinder waren die Ersten, deren Leben eingeschrä­nkt wurden und die Letzten, die wieder auf Klassenfah­rten fahren durften. Das ist bitter und das darf sich nicht wiederhole­n.

Sind Kinder und Jugendlich­e in unserem demokratis­chen System ausreichen­d vertreten? Was halten Sie von der Diskussion um die Senkung des Wahlalters?

Ich hatte schon mal gesagt, das Beste ist, wir senken das Wahlrecht auf 16 oder 14 Jahre ab. Und sollte ein Kind vorher schon wählen wollen, dann muss es einen Antrag stellen, damit es ins Wählerverz­eichnis aufgenomme­n wird. Dann weiß ich, es kann auch wählen, wenn es den Antrag stellen kann. Insgesamt wünsche ich mir, dass man die Kinder bei allen Entscheidu­ngen stärker im Blick hat. Das fängt schon bei den Meinungsum­fragen an. Da wäre es schon gut und richtig, junge

Menschen einzubezie­hen. Schließlic­h werden auf Basis solcher Umfragen vielfältig­e Entscheidu­ngen zu Lasten der folgenden Generation­en getroffen.

Also unterstütz­en Sie die Aktionen der „Letzten Generation“?

Ich würde mich nicht auf die Straße kleben. Soweit würde ich sicher nicht gehen. Ich sehe aber den Einsatz und freue mich über das Engagement für den Klimaschut­z, auch wenn ich nicht jedes Mittel unterstütz­e. Gleichzeit­ig finde ich es ungeheuerl­ich, die jungen Klimaaktiv­isten mit der RAF zu vergleiche­n.

Was sind Ihre Wünsche für 2023?

Dass wir die Kinder im Blick behalten. Dass Politik und Gesellscha­ft trotz Krieg und Krisen ihrer Verantwort­ung für die nächste Generation gerecht werden. Wer nur auf die Stimmung der Wählerinne­n und Wähler guckt oder auf Parteiinte­ressen, hat nicht die richtige Haltung. Mir ist bewusst, dass in dieser schweren Zeit nicht alle Verspreche­n gehalten werden können. Mich freut deshalb, dass mancher bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen. Das tut Not – gerade beim Kampf gegen die Kinderarmu­t. Wir brauchen im Einsatz für die Kinder eine umfassende Einigkeit über Parteigren­zen hinweg.

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