Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Hoffnung für das Börsenjahr 2023
Zunächst droht eine Rezession, aber die könnte im Spätsommer überwunden sein. Das würde auch die Aktienkurse anschieben.
An der Börse zählt vor allem die Zukunft: Aktienkurse bilden also häufig künftige Gewinnerwartungen ab, nicht immer die aktuelle Lage eines börsennotierten Unternehmens. Und so darf man womöglich auch im kommenden Jahr, für das die Prognosen in Sachen Entwicklung der Wirtschaft weltweit deutlich abgeschwächt worden sind, trotzdem auf steigende Kurse hoffen – in dem Glauben, dass spätestens im Jahr darauf alles wieder besser wird für die Wirtschaft.
Prognosen In Zahlen bedeutet das beispielsweise: Die Landesbank Helaba sagte dem Dax jüngst einen Jahresendstand 2023 von 16.000 Punkten voraus, die Deutsche Bank prognostizierte immerhin noch 15.000 Punkte für Ende Dezember des kommenden Jahres, genauso wie die DZ-Bank. Das wäre gegenüber dem Stand vom vergangenen Freitagmittag immerhin noch ein Plus von fast acht Prozent. Etwas weniger zuversichtlich war die Bank of America, die einen Jahresendstand von 14.300 Punkten voraussagte. Die Dekabank prognostiziert zum Jahresende 2023 beim Dax 14.500 Punkte.
Rückblick Das nächste Jahr könnte diesen Prognosen zufolge also ein bisschen Balsam für geschundene Anleger-Seelen bringen. Im abgelaufenen Jahr haben die Investoren reichlich leiden müssen. Es kam der russische Angriff auf die Ukraine, in dessen Folge die Energiekosten ins schier Unermessliche stiegen, Lebensmittel sich drastisch verteuerten. Beides zusammen trieb maßgeblich die Inflation an, deren Ausmaß schließlich die Europäische Zentralbank nach langem Zögern zwang, viermal binnen weniger Monate die Zinsen zu erhöhen. Dazu kamen anhaltende Probleme in Lieferketten. Alles zusammen war Gift für die Börse. In den vergangenen zwölf Monaten verlor der Dax mehr als elf Prozent. Einigen anderen Indizes ging es nicht besser.
Perspektive Wird also 2023 alles besser? Aus Sicht von Christoph Schickentanz, Leiter des Portfoliomanagements beim Vermögensverwalter Capitell, könnte das klappen: „Wir rechnen mit einer Überraschung – dass die Märkte 2023 durch die schwierige realwirtschaftliche Lage hindurchschauen und sich nach dem Prinzip Hoffnung auf die wirtschaftliche Erholung in 2024 konzentrieren“, schrieb Schickentanz erst kürzlich in einer Analyse.
Das Verhalten kenne man bereits aus der Zeit vor der Pandemie, der Finanz- und Wirtschaftskrise und den Terroranschlägen nach dem 11. September 2001. Acht bis zehn Prozent Wachstumspotenzial sieht Schickentanz an den globalen Aktienmärkten, „mit dem Potenzial auf mehr, wenn sich die Energiekrise in Wohlgefallen auflöst, mit dem Risiko auf weniger, sollte sie sich verschärfen“.
Auch Karsten Tripp, Chief Strategist im Private Banking der HSBC Deutschland, vermutet, dass der Dax bis Ende 2023 auf mindestens 15.000 Punkte steigen könnte: „Nach Krisenphasen setzt die Erholung häufig relativ kräftig ein.“Dann könnten seiner Einschätzung nach beispielsweise Staatsanleihen aus der Euro-Zone zwei bis drei Prozent Rendite abwerfen. „Um die vier Prozent zusätzliche Risikoprämie auf Aktien wären dann realistisch“, sagt Tripp.
Die Dekabank rechnet für die europäischen Märkte nach Angaben von Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie, mit „leichten Kurszuwächsen auf Jahresbasis“. Er sagt: „Allerdings wird die Dividende einen maßgeblichen Anteil zum Aktien-Gesamtertrag beisteuern.“Was Schallmayer empfehlen würde: eine stärkere Gewichtung bei Energie, Rohstoffen, Pharma, Versorgern und Nahrungsmitteln. „Bei Automobilen, Bau und Industrie sind wir zurückhaltender“, sagt der Dekabank-Experte.
Zinsen Von Renditen jenseits der sieben Prozent könnte man bei festverzinslichen Anlagen auch nach weiteren Zinserhöhungen im kommenden Jahr nur träumen. Die Zinswelle könnte 2023 ohnehin zu Ende gehen – was die Börsenkurse in der Folge beflügeln würde.
Tripp erwartet, dass das Ende der Zinsschritte nach oben in den Vereinigten Staaten früher kommt als in der Eurozone, weil die Inflation in den USA ihren Höhepunkt schon überschritten habe: „„In Amerika werden die Zinserhöhungen schon um das Ende des ersten Quartals abgeschlossen sein, in Europa vermutlich erst später.“
Konjunktur Ein Ende der Zinserhöhungswelle im nächsten Jahr könnte sich positiv auf die Wachstumsaussichten auswirken. Dass zunächst eine Rezession kommt, scheint ausgemacht. Aber wie tief wird sie sein? Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln sieht Deutschland auch vor „einer neuen Rezession“, betont aber gleichzeitig: „Allerdings deuten die Zahlen nicht auf einen Konjunktureinbruch in dem Ausmaß hin, wie es ihn in der Corona-Pandemie oder in der Finanzmarktkrise 2008 gab.“
Auch HSBC-Experte Tripp hält eine Rezession für realistisch, glaubt aber, dass sie im dritten Quartal überwunden sein könnte und die Wirtschaft dann wieder auf einen Wachstumspfad einschwenken könnte. Wegen der Abschwunggefahren wäre er aber in der ersten Jahreshälfte bei Aktieninvestments eher vorsichtig. Andererseits: „Wenn das Wetter so bliebe wie jetzt, wäre das Problem mit den Energiekosten kleiner. Dann könnten wir sogar an einer Rezession vorbeikommen.“
Regel Egal, welche geopolitischen Risiken uns (weiter) beschäftigen, wie die Weltwirtschaft wächst oder schrumpft und wie sich die Zinsen entwickeln – man sollte grundsätzlich kein Geld an der Börse anlegen, das man in absehbarer Zeit dringend braucht. Nur wenn das nicht der Fall ist, kann man es sich leisten, Kursverluste über einen längeren Zeitraum auszusitzen. Und die wird es – zumindest vorübergehend – auch im nächsten Jahr sicherlich geben.