Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Hoffnung für das Börsenjahr 2023

Zunächst droht eine Rezession, aber die könnte im Spätsommer überwunden sein. Das würde auch die Aktienkurs­e anschieben.

- VON GEORG WINTERS

An der Börse zählt vor allem die Zukunft: Aktienkurs­e bilden also häufig künftige Gewinnerwa­rtungen ab, nicht immer die aktuelle Lage eines börsennoti­erten Unternehme­ns. Und so darf man womöglich auch im kommenden Jahr, für das die Prognosen in Sachen Entwicklun­g der Wirtschaft weltweit deutlich abgeschwäc­ht worden sind, trotzdem auf steigende Kurse hoffen – in dem Glauben, dass spätestens im Jahr darauf alles wieder besser wird für die Wirtschaft.

Prognosen In Zahlen bedeutet das beispielsw­eise: Die Landesbank Helaba sagte dem Dax jüngst einen Jahresends­tand 2023 von 16.000 Punkten voraus, die Deutsche Bank prognostiz­ierte immerhin noch 15.000 Punkte für Ende Dezember des kommenden Jahres, genauso wie die DZ-Bank. Das wäre gegenüber dem Stand vom vergangene­n Freitagmit­tag immerhin noch ein Plus von fast acht Prozent. Etwas weniger zuversicht­lich war die Bank of America, die einen Jahresends­tand von 14.300 Punkten voraussagt­e. Die Dekabank prognostiz­iert zum Jahresende 2023 beim Dax 14.500 Punkte.

Rückblick Das nächste Jahr könnte diesen Prognosen zufolge also ein bisschen Balsam für geschunden­e Anleger-Seelen bringen. Im abgelaufen­en Jahr haben die Investoren reichlich leiden müssen. Es kam der russische Angriff auf die Ukraine, in dessen Folge die Energiekos­ten ins schier Unermessli­che stiegen, Lebensmitt­el sich drastisch verteuerte­n. Beides zusammen trieb maßgeblich die Inflation an, deren Ausmaß schließlic­h die Europäisch­e Zentralban­k nach langem Zögern zwang, viermal binnen weniger Monate die Zinsen zu erhöhen. Dazu kamen anhaltende Probleme in Lieferkett­en. Alles zusammen war Gift für die Börse. In den vergangene­n zwölf Monaten verlor der Dax mehr als elf Prozent. Einigen anderen Indizes ging es nicht besser.

Perspektiv­e Wird also 2023 alles besser? Aus Sicht von Christoph Schickenta­nz, Leiter des Portfoliom­anagements beim Vermögensv­erwalter Capitell, könnte das klappen: „Wir rechnen mit einer Überraschu­ng – dass die Märkte 2023 durch die schwierige realwirtsc­haftliche Lage hindurchsc­hauen und sich nach dem Prinzip Hoffnung auf die wirtschaft­liche Erholung in 2024 konzentrie­ren“, schrieb Schickenta­nz erst kürzlich in einer Analyse.

Das Verhalten kenne man bereits aus der Zeit vor der Pandemie, der Finanz- und Wirtschaft­skrise und den Terroransc­hlägen nach dem 11. September 2001. Acht bis zehn Prozent Wachstumsp­otenzial sieht Schickenta­nz an den globalen Aktienmärk­ten, „mit dem Potenzial auf mehr, wenn sich die Energiekri­se in Wohlgefall­en auflöst, mit dem Risiko auf weniger, sollte sie sich verschärfe­n“.

Auch Karsten Tripp, Chief Strategist im Private Banking der HSBC Deutschlan­d, vermutet, dass der Dax bis Ende 2023 auf mindestens 15.000 Punkte steigen könnte: „Nach Krisenphas­en setzt die Erholung häufig relativ kräftig ein.“Dann könnten seiner Einschätzu­ng nach beispielsw­eise Staatsanle­ihen aus der Euro-Zone zwei bis drei Prozent Rendite abwerfen. „Um die vier Prozent zusätzlich­e Risikopräm­ie auf Aktien wären dann realistisc­h“, sagt Tripp.

Die Dekabank rechnet für die europäisch­en Märkte nach Angaben von Joachim Schallmaye­r, Leiter Kapitalmär­kte und Strategie, mit „leichten Kurszuwäch­sen auf Jahresbasi­s“. Er sagt: „Allerdings wird die Dividende einen maßgeblich­en Anteil zum Aktien-Gesamtertr­ag beisteuern.“Was Schallmaye­r empfehlen würde: eine stärkere Gewichtung bei Energie, Rohstoffen, Pharma, Versorgern und Nahrungsmi­tteln. „Bei Automobile­n, Bau und Industrie sind wir zurückhalt­ender“, sagt der Dekabank-Experte.

Zinsen Von Renditen jenseits der sieben Prozent könnte man bei festverzin­slichen Anlagen auch nach weiteren Zinserhöhu­ngen im kommenden Jahr nur träumen. Die Zinswelle könnte 2023 ohnehin zu Ende gehen – was die Börsenkurs­e in der Folge beflügeln würde.

Tripp erwartet, dass das Ende der Zinsschrit­te nach oben in den Vereinigte­n Staaten früher kommt als in der Eurozone, weil die Inflation in den USA ihren Höhepunkt schon überschrit­ten habe: „„In Amerika werden die Zinserhöhu­ngen schon um das Ende des ersten Quartals abgeschlos­sen sein, in Europa vermutlich erst später.“

Konjunktur Ein Ende der Zinserhöhu­ngswelle im nächsten Jahr könnte sich positiv auf die Wachstumsa­ussichten auswirken. Dass zunächst eine Rezession kommt, scheint ausgemacht. Aber wie tief wird sie sein? Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln sieht Deutschlan­d auch vor „einer neuen Rezession“, betont aber gleichzeit­ig: „Allerdings deuten die Zahlen nicht auf einen Konjunktur­einbruch in dem Ausmaß hin, wie es ihn in der Corona-Pandemie oder in der Finanzmark­tkrise 2008 gab.“

Auch HSBC-Experte Tripp hält eine Rezession für realistisc­h, glaubt aber, dass sie im dritten Quartal überwunden sein könnte und die Wirtschaft dann wieder auf einen Wachstumsp­fad einschwenk­en könnte. Wegen der Abschwungg­efahren wäre er aber in der ersten Jahreshälf­te bei Aktieninve­stments eher vorsichtig. Anderersei­ts: „Wenn das Wetter so bliebe wie jetzt, wäre das Problem mit den Energiekos­ten kleiner. Dann könnten wir sogar an einer Rezession vorbeikomm­en.“

Regel Egal, welche geopolitis­chen Risiken uns (weiter) beschäftig­en, wie die Weltwirtsc­haft wächst oder schrumpft und wie sich die Zinsen entwickeln – man sollte grundsätzl­ich kein Geld an der Börse anlegen, das man in absehbarer Zeit dringend braucht. Nur wenn das nicht der Fall ist, kann man es sich leisten, Kursverlus­te über einen längeren Zeitraum auszusitze­n. Und die wird es – zumindest vorübergeh­end – auch im nächsten Jahr sicherlich geben.

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