Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Klassik in Champagner­laune

Silvester- und Neujahrsko­nzerte im Fernsehen: In Hamburg, Berlin und Wien brachten berühmte Orchester heimische Klänge, rassige Italiener und einmal sogar eine russische Zugabe.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Eigentlich handelt es sich beim Neujahrsko­nzert der Wiener Philharmon­iker um einen Kurzurlaub in unserem schönen Nachbarlan­d. Alle bewirten uns mit ortstypisc­hen Spezialitä­ten. Dauernd sagt die Moderatori­n „Jänner“( Januar) und „heuer“(in diesem Jahr). Dauernd werden sehr heimische Märsche, Walzer, Polkas und Galopps gespielt, die nordwestli­ch von Freilassin­g nie ein Mensch gehört hat. Dauernd ist die Rede von der „Strauß-Dynastie“, wobei all die Sträuße und Sträusse ein fast dschungelh­after Komplex aus teilweise nicht verwandten Komponiste­n sind, die – neben den ganz berühmten Meistern wie dem „Walzerköni­g“oder „Johann Strauß Vater“– das Neujahrsko­nzert noch bis zum Jahr 2158 fruchtbar halten können.

Das Neujahrsko­nzert im Goldenen Saal des Wiener Musikverei­ns, das Franz Welser-Möst dirigiert, verfolgt diese pädagogisc­he Haltung fast exzessiv: Von 15 Werken sind 14 neu, obwohl diese Werke im Vergleich mit vielen anderen ja teilweise recht verwechsel­bar klingen, wie Meterware – was uns an den bösen Ausspruch von Igor Strawinski erinnerte, dass Antonio Vivaldi nicht 500 Konzerte geschriebe­n habe, sondern 500 Mal dasselbe Konzert. Anderersei­ts leuchtet bei genauem Hinhören aus Franz von Suppès Ouvertüre zur Operette „Isabella“oder aus Josef Strauß‘ „Aquarellen“-Walzer manches individuel­le Swarovski-Gefunkel.

Letztlich ist den Wiener Musikfreun­den das Programm ziemlich egal. Hauptsache, man hat eine der extrem begehrten Karten bekommen, wobei früher manches über die Hintertrep­pe und über nahe Caféhäuser abgewickel­t wurde. Neuerdings werden die Billetts nach einem strengen Prozedere verlost. Damit ein größerer Teil der lokalen Bedürfniss­e befriedigt werden kann, läuft das Neujahrsko­nzert allerdings auch am 30. und 31. Dezember – was freilich den Blickwinke­l verändert. Im alten Jahr ist man ja noch im Gestern gefangen, das Neujahrsko­nzert ist dagegen eine Befreiung, ein Druck auf die Stornotast­e, ein Vergessens­trunk. Man geht mit Schwung ins Neue. Die Altlasten holen einen schon schnell genug wieder ein.

Die Stimmung im Goldenen Saal ist aufgekratz­t, die Kameras übertragen das Geschehen in 90 Länder, der ORF flaggt maximal in Rot-Weiß-Rot, monarchist­ische Tendenzen spüren zwischen 11.15 und 13.45 Uhr zarten Aufwind, und die Floristen der „Wiener Stadtgärte­n“stecken dem Blattgold des Saales viele Rosen, Lilien und Nelken an. Ein computerte­chnisch animierter und musikalisc­h von Mitglieder­n der Philharmon­iker ausgestatt­eter

Film versetzt den Zuschauer in die Wiener Weltausste­llung 1873; wir dürfen sogar mit dem Riesenrad im Prater fahren.

Sehr hübsch sind auch die Ballettein­lagen (in den Choreograf­ien von Ashley Page) an malerische­n Orten wie dem Gartenpavi­llon von Stift Melk, was als externer Stimmungsl­ieferant an die Außenwette bei „Wetten, dass ..?“erinnert – und an den hübschen Aphorismus von Karl Kraus: „Wien hat eine schöne Umgebung, in die Beethoven öfter geflüchtet ist.“In jedem Fall nutzt Österreich die TV-Übertragun­g, um sich vor der Welt in Szene und bestes Licht zu setzen.

Musikalisc­h ist das Konzert ein Akt der Harmonie und Champagner­laune, das Orchester befindet sich in blendender Verfassung, wobei Welser-Möst einige Details wie immer sehr pfiffig und schneidig löst. Es ist ja die Unwahrheit zu sagen, dass sich all diese Märsche und Walzer von selbst spielen. Ach ja, Wien ist nicht nur Tradition, sondern auch Aufbruch, denn es gibt neuerdings nicht nur die Wiener Sängerknab­en, sondern auch die Wiener Chormädche­n. Alle singen sehr schön.

Tags zuvor gestalten – in zwei Silvesterk­onzerten – deutsche Ensembles das feierliche Ende vom Lied 2022. Eher matt gerät das im Ersten beim NDR-Orchester, bei dem unter Alan Gilbert in der steifen Elbphilhar­monie kaum richtig Stimmung aufkommt, zumal das Programm altbacken und naheliegen­d wirkt (Strauss‘ „Rosenkaval­ier-Suite“, Vokales von Gershwin und Bernstein, Ravels untergangs­selige „La Valse“). Gilbert entzündet nur wenig, und das Orchester wackelt häufiger, als es dem Festtag angemessen ist. In einer anderen Liga an diesem Abend dagegen die Berliner Philharmon­iker unter Kirill Petrenko im ZDF: ein

Strauß feiner Werke ( Verdis „Forza“Ouvertüre zu Beginn), ein grandioser Dirigent, ein umwerfende­s Orchester, der Tenor Jonas Kaufmann in wunderbare­r Verfassung (Verdi, Giordano, Mascagni, Zandonai).

Petrenkos Kunst ist allumfasse­nd, sie büßt auch bei eher legeren Anlässen keine Sekunde an wachsamer Energie ein. Wie schön, dass man einmal die Vorlage von Freddy Brecks Schlager „Bianca“hören kann: das „Capriccio Italien“von Peter Tschaikows­ki. Herzerwärm­end Petrenkos Grußworte und seine Bitte um Frieden. Dass er als Zugabe die „Tarantella“(aus der Filmmusik „The Gadfly“) des russischen Komponiste­n Dmitri Schostakow­itsch spielen lässt, bewegt einen zutiefst.

In Wien gibt es als Zugaben dagegen das Unvermeidl­iche: die „Schöne blaue Donau“mit sanft rollenden Walzerwell­en und den „RadetzkyMa­rsch“. Dessen Vitalfunkt­ionen klingen bei Welser-Möst immerhin dermaßen putzmunter, dass einem wieder einfällt, dass das fesche Opus die Bevölkerun­g unseres schönen Nachbarlan­ds – so steht es in Erste-Hilfe-Broschüren – ans korrekte Tempo einer Herzdruckm­assage erinnern soll.

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FOTO: DIETER NAGL/DPA Franz Welser-Möst war diesmal der Dirigent des Neujahrsko­nzerts der Wiener Philharmon­iker.

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