Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Chagalls Träume der Trauer
Zwei Ausstellungen lohnen eine Fahrt nach Frankfurt: die gestenreichen Bilder von Guido Reni im Städel und die Traumszenen von Marc Chagall in der Schirn-Kunsthalle.
Ohne Himmel hätte Guido Reni seine Bilder nicht malen können. Seine Figuren sind oft fixiert aufs Firmament, blicken verzückt hinauf in die Richtung, in der sie das Göttliche vermuten. Mit einem anderen, nur Kunstwissenschaftlern geläufigen Wort: Sie himmeln. Der Blick gen Jenseits bestimmte das Barock so sehr, dass für einen seiner bedeutendsten Maler, den 1575 nahe Bologna geborenen Reni, schon zu Lebzeiten ein unlöschbarer Beiname gefunden war: der Göttliche.
Das Frankfurter Städel-Museum überwältigt seine Besucher jetzt mit einer Mischung aus himmelnden Leinwänden und wunderbar stillen grafischen Blättern, die auf ihre Weise die Schönheit des Göttlichen preisen. Zunächst aber fällt der Blick auf ein Hauptwerk Renis, das hoch aufragende Gemälde „Unbefleckte Empfängnis Mariens“aus dem Metropolitan Museum in New York. Da himmelt nicht nur Maria, auch viele der sie umgebenden Engel blicken auf. Das Altarbild entstand in Rom, wo Reni zeitweise arbeitete, wenn er auch regelmäßig zurück nach Bologna fuhr, zu seiner geliebten Mutter. Im Übrigen war er, wie es überliefert ist, Frauen gegenüber scheu. Dabei wäre er eine gute Partie gewesen, hätte er nicht seinen durch Kunst erworbenen Reichtum immer wieder verzockt.
Reni entwickelte sein Werk in Abgrenzung zum damals schon berühmteren Caravaggio, dem Dramatiker
des Hell-Dunkel-Kontrasts. Sein „David mit dem Haupt des Goliath“ist zwar, was das abgeschlagene Haupt anlangt, kein schöner Anblick, doch David erscheint halb entblößt, den rechten Arm auf eine Säule gelehnt und in ein sanftes Licht getaucht, den Blick fast mitleidig auf den blutenden Kopf gerichtet.
Gewalt spielt in zahlreichen Werken Renis eine Rolle, doch ist sie meist verklärt – es blutet nicht. Schließlich geht es stets darum, die Schönheit des Göttlichen zu rühmen. Am besten gelingt das mit abseitigen Motiven in Malerei und den grafischen Künsten. Das anrührendste Bild der Ausstellung ist die „Allegorie der Eintracht von Zeichnung und Malerei“im Kreisformat. Ein elegisch dreinschauendes, einander innig zugewandtes Paar zeigt sich beiläufig in Arbeitspose: er mit Blatt und Stift als Vertreter der Zeichnung (das italienische Wort „disegno“ist männlich), sie mit Pinsel und Palette („pittura“für Malerei ist weiblich).
In Renis grafischem Werk entdeckt man vieles, das später auf Leinwänden vergrößert und ausgemalt wiederkehrt: Studien zu Körperhaltungen, aber ebenso eigenständige Kunstwerke. Dazwischen liegt das zauberhafte Blatt „Drei Kinder, ein Tablett mit drei Gläsern balancierend“aus der Sammlung des Städel.
Einer der Ausstellungssäle vereint Renis letzte Werke mit der Frage, ob sie als unvollendet gelten müssen oder die farbliche Dämpfung, die sie allesamt bestimmt, ein Zeichen
höchster Kunst ist. Sind die nicht vollendeten Bilder Ausdruck einer Gepflogenheit, die damals in der Kunstszene verbreitet war? Zu Ende gemalt wurde nämlich erst, wenn die Ware bezahlt war.
Als Guido Reni 1642 in Bologna starb, hatte er in ganz Europa Altarbilder hinterlassen. Sein Ehrentitel „Der Göttliche“strahlte über seine Lebenszeit hinaus, bis sein Ruhm im 19. Jahrhundert erlosch, weil andere Richtungen nachdrängten. Dieses Schicksal verbindet ihn mit dem Künstler, an den die Frankfurter Schirn erinnert: Marc Chagall (1887–1985), den russischen Weltbürger wider Willen. Zwar hat sich der Klang seines Namens erhalten, doch im Museumsbetrieb spielt Chagall nur noch eine Nebenrolle. Dabei hat er nach wie vor einen Stamm von Bewunderern, die ihm nun in der Schirn selbst zur Mittagsstunde
menschenvolle Räume bescheren.
Die Wiederbegegnung mit Chagall löst zwiespältige Gefühle aus. Einerseits weiß man heute, in einer aufgewühlten Welt, die Engel, fliegenden Liebespaare und ländlichen Szenen als surrealistisches Gegenbild zu schätzen. Andererseits kann man die frühen Werke, auf die sich die Schirn konzentriert, zugleich als Ausdruck von Chagalls tragischer Rastlosigkeit deuten. 1922 floh er mit seiner Frau vor der kommunistischen Einschränkung der Kunstfreiheit nach Berlin, von dort nach Paris und vom Deutsch beherrschten Paris in die USA. Nach dem Krieg und dem Tod seiner Frau übersiedelte er nach Südfrankreich und blieb dort bis ans Lebensende.
Die Bilder, die in Frankfurt zu sehen sind, zeugen davon, wie sehr Chagall dem Verlust seiner Heimat nachtrauerte – einem Verlust, der zugleich die Vernichtung des Ostjudentums bedeutete. Was heute wegen seiner scheinbaren Naivität oft in die Kitschecke gedrängt wird, ist in Wirklichkeit eine Geschichte von Flucht und Vertreibung: Rabbis durchziehen die Leinwände und mit ihnen eine Fülle von Gegenständen, die eng mit der Kultur des Ostjudentums verbunden sind.
In Traumszenen verklärt sich nur notdürftig die bittere Wahrheit, dass Chagalls Heimat Witebsk im heutigen Belarus ihren durch Generationen vererbten Charakter für immer verloren hat. Geblieben ist die Erinnerungskraft farbgewaltiger Gemälde.