Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Zauber vergangene­r Zeiten

Mit „Figurenste­hen“erscheint eine unbekannte späte Erzählung aus dem Nachlass von Günter Grass.

- VON WELF GROMBACHER

Auf Papier ist vieles möglich, schreibt Günter Grass. Und der muss es wissen: Gegen Ende der 80er-Jahre besuchte er die DDR und machte einen Abstecher in den Naumburger Dom, um dort im Westchor die weltberühm­ten Stifterfig­uren zu bestaunen. Allen voran, klar, die Uta, die als schönste Frau des Mittelalte­rs gilt. Und weil für einen Schriftste­ller weder zeitliche noch räumliche Grenzen gelten, fasste er den Entschluss, die Figuren zu sich zum Essen nach Lübeck einzuladen.

In seiner 2003 geschriebe­nen Erzählung „Figurenste­hen“berichtet Günter Grass (1927–2015) von dieser historisch­en Tafelrunde und dem Zauber, den die schöne Uta auf ihn ausübte. „Mit niemandem war darüber zu sprechen. Selbst meiner Frau gegenüber verlor ich kein geständige­s Wort. Was hätte ich auch gestehen sollen?“Im Nachlass fand sich das bis dahin unbekannte Manuskript, das der Steidl-Verlag nun als Buch veröffentl­ichte.

Kurzweilig erzählt Grass, wie die Reiseführe­rin im Dom dem Westbesuch erläutert, dass es dem unbekannte­n Naumburger Meister, der die Stifterfig­uren im 13. Jahrhunder­t erschaffen hat, auf fabelhafte Weise gelungen sei, die „Klassengeg­ensätze, wenn nicht aufzuheben, dann doch durchlässi­g erscheinen zu lassen“, indem er die der Herrscherk­lasse angehörend­en Stifter wie ganz normale Menschen gestaltet habe. Und wie er selbst später den historisch­en Gestalten „Kartoffeln mit Quark“und „echte Thüringer Bratwürste“auftischt und die so kräftig zulangen, dass der Gastgeber am Ende froh ist, noch eine Packung Fischstäbc­hen in Reserve zu haben.

Die schmecken, runtergesp­ült mit einer eisgekühlt­en Cola, sogar der sonst ein wenig mäkeligen Uta.

Jahre später dann, die Mauer ist schon gefallen, sieht Grass die edle Dame wieder. Vor dem Kölner Dom nimmt eine Straßenkün­stlerin versteiner­t die Pose der Uta von Naumburg ein. Mit Spraydose steingrau gepudert und auf einem Podest verharrend, verdient sie sich so als Figurenste­herin das Geld. Geradezu zu einer Obsession wird die Schöne dem Schriftste­ller und verfolgt ihn über Mailand bis nach Palermo. Hat es einen Grund, warum sie seine Einladung immer wieder ablehnt? Der Fantasie des Autors sind keine Grenzen gesetzt, wie Grass in seiner zauberhaft­en Erzählung einmal mehr beweist. Figuren aus Muschelkal­k erweckt er ebenso schnell mal zum Leben wie lange vergangene Zeiten.

Schriftste­ller sind Spieler. Auf dem Papier verschiebe­n sie ihre Figuren und mischen sich mitunter schon mal mitten unter sie. So wie Günter Grass das selbstiron­isch in seiner munteren Erzählung getan hat. Nicht jeder mag heute noch ausreichen­d Geduld mitbringen, den kunstvoll gewirkten Sätzen des Nobelpreis­trägers nachzulaus­chen.

Auch sie stammen aus einer anderen Zeit, so wie die schöne Uta als Ehefrau des Markgrafen Ekkehard II. von Meißen (um 985 bis 1046). Wer aber mit diesem Schriftste­ller großgeword­en ist und seine Bücher kennt und schätzt, für den ist diese kleine Erzählung, die mit Zeichnunge­n aus der Hand von Günter Grass launig illustrier­t ist, eine echte Entdeckung.

Info Günter Grass: „Figurenste­hen“. Steidl, 72 Seiten, 18 Euro

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