Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Es hätte auch bei uns passieren können“
Der Tod von Luise aus Freudenberg erschüttert vor allem deshalb so sehr, weil die Täterinnen noch Kinder sind. Ein Einzelfall, vor dem trotzdem keine Kommune gefeit ist, sagt der Leiter des Allgemeinen Sozialdienstes in Remscheid.
REMSCHEID Als Tom Küchler in der vergangenen Woche davon erfuhr, dass die 12-jährige Luise F. aus Freudenberg von nahezu gleichaltrigen Mädchen getötet wurde, da hatte der langjährige Leiter vom Allgemeinen Sozialdienst (ASD) im Jugendamt Remscheid spontan zwei Gedanken. „Zum einen habe ich mich direkt gefragt, was diese Mädchen alles schon erlebt haben müssen, dass sie solch eine Tat begehen
„Agatha Christie-Krimis früher waren spannend, aber nicht blutrünstig. Heute wird alles offen gezeigt, damit wachsen die Kinder auf.“Tom Küchler Allgemeiner Sozialdienst
und zweitens: Hoffentlich ist diese Tat kein Indiz für eine zunehmend massivere Gewaltbereitschaft bei jungen Menschen.“
Denn eins ist klar: Auch wenn die Tat nicht in Remscheid begangen wurde, das Entsetzen und die Sprachlosigkeit über die Brutalität der jungen Mädchen ist auch beim Remscheider Jugendamt groß. „Obwohl wir im Bergischen Land eine vergleichsweise geringe Anzahl an Kinder- und Jugendstraftaten verzeichnen, kann so etwas wie im Fall Luise theoretisch überall passieren. Auch hier bei uns“, ist sich Küchler sicher. Denn Straftaten und Gewaltbereitschaft auch bei unter 14-Jährigen gehören seit 1985 zu seinem beruflichen Alltag – allerdings nicht in auch nur annähernd vergleichbarer Dimension wie in Freudenberg.
„Es geht in der Regel um Prügeleien unter Gleichaltrigen, oft richtet sich die Gewalt auch gegen Sachgegenstände oder auch gegen sich selbst in Form von autoaggressiven Verletzungen“, erklärt Küchler. Die Aggressionshemmschwelle sei im Laufe der Jahre geringer geworden. „Dazu zählt neben körperlicher auch verbale und psychische Gewalt. Und das hat auch viel mit den Medien zu tun. Agatha Christie-Krimis früher waren spannend, aber nicht blutrünstig. Heute wird alles offen gezeigt, damit wachsen die Kinder auf.“
Warum aber werden dann nicht alle Kinder gewalttätig? „Der zentrale Punkt bei der Entwicklung liegt in der Familie des Kindes“, betont Küchler. „Man kann nichts generalisieren, aber wenn Eltern selbst der Auffassung sind, dass ein Kind sich doch ruhig mit Fäusten wehren soll, wenn es angegriffen wird, ist die Wahrscheinlichkeit einer Gewaltbereitschaft höher als bei Kindern, die gelernt haben, konstruktiv mit Angriffen umzugehen und Streitereien auf kommunikativer Ebene zu lösen.“
Aus diesem Grund laufen auch in Remscheid Gespräche immer mit den Eltern, wenn ein Kind in irgendeiner Form so auffällig geworden ist, dass der ASD ins Boot geholt wird. „Wir fragen die Eltern immer als erstes, wie sie sich das Verhalten ihres Kindes erklären und bieten regelmäßige Gespräche an, wenn sich für uns herausstellt, dass eine intensive Elternarbeit nötig ist, um das Kind wieder in die richtige Bahn zu lenken.“ Verweigern Eltern oder andere Erziehungsberechtigte die Zusammenarbeit, kann das dazu führen, dass ein Antrag beim Familiengericht auf verpflichtende Teilnahme gestellt wird. „Und wenn auch das nichts bewirkt und wir den Eindruck haben, dass der Einfluss der Eltern dem Kind eine gewaltfreie Zukunft erschwert, kann es letztlich passieren, dass wir beim Familiengericht Maßnahmen zum Schutz des Kindes beantragen.“
Diese Kinder und Jugendlichen werden dann in speziellen Einrichtungen untergebracht, in denen sie engmaschig betreut und resozialisiert werden. Der LVR etwa betreibt ein Mädchenwohnheim in Remscheid. „Es ist schwierig etwas über die Prognosen zu sagen, weil jeder Fall anders ist. Es gibt Jugendliche, die ihren Weg finden, andere kommen davon doch immer wieder ab und werden rückfällig in ihrem negativen Verhalten“, weiß Küchler.
Unterstützung finden sehr junge Intensivtäter zudem in dem landesweiten Projekt „Kurve Kriegen“, eine Maßnahme von Polizei und freien Jugendhilfeträgern. „Die Initiative basiert darauf, den Kindern und teils auch deren Eltern sehr individuell passgenaue Unterstützung zu bieten“, erläutert Küchler.
Rund 300 Straftaten von Kindern wurden 2022 in Remscheid registriert. Eine Zahl, die zwar hoch klingt, aber plausibel erklärbar ist. „Wenn ein Kind einmalig eine Süßigkeit für 59 Cent mitgehen lässt, muss das von der Staatsanwaltschaft aktenkundig gemacht werden. Ich finde, manchmal handelt es sich doch eher um kindlichen Leichtsinn, der mit Kriminalität nicht viel zu tun hat.“