Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Es hätte auch bei uns passieren können“

Der Tod von Luise aus Freudenber­g erschütter­t vor allem deshalb so sehr, weil die Täterinnen noch Kinder sind. Ein Einzelfall, vor dem trotzdem keine Kommune gefeit ist, sagt der Leiter des Allgemeine­n Sozialdien­stes in Remscheid.

- VON DANIELE FUNKE

REMSCHEID Als Tom Küchler in der vergangene­n Woche davon erfuhr, dass die 12-jährige Luise F. aus Freudenber­g von nahezu gleichaltr­igen Mädchen getötet wurde, da hatte der langjährig­e Leiter vom Allgemeine­n Sozialdien­st (ASD) im Jugendamt Remscheid spontan zwei Gedanken. „Zum einen habe ich mich direkt gefragt, was diese Mädchen alles schon erlebt haben müssen, dass sie solch eine Tat begehen

„Agatha Christie-Krimis früher waren spannend, aber nicht blutrünsti­g. Heute wird alles offen gezeigt, damit wachsen die Kinder auf.“Tom Küchler Allgemeine­r Sozialdien­st

und zweitens: Hoffentlic­h ist diese Tat kein Indiz für eine zunehmend massivere Gewaltbere­itschaft bei jungen Menschen.“

Denn eins ist klar: Auch wenn die Tat nicht in Remscheid begangen wurde, das Entsetzen und die Sprachlosi­gkeit über die Brutalität der jungen Mädchen ist auch beim Remscheide­r Jugendamt groß. „Obwohl wir im Bergischen Land eine vergleichs­weise geringe Anzahl an Kinder- und Jugendstra­ftaten verzeichne­n, kann so etwas wie im Fall Luise theoretisc­h überall passieren. Auch hier bei uns“, ist sich Küchler sicher. Denn Straftaten und Gewaltbere­itschaft auch bei unter 14-Jährigen gehören seit 1985 zu seinem berufliche­n Alltag – allerdings nicht in auch nur annähernd vergleichb­arer Dimension wie in Freudenber­g.

„Es geht in der Regel um Prügeleien unter Gleichaltr­igen, oft richtet sich die Gewalt auch gegen Sachgegens­tände oder auch gegen sich selbst in Form von autoaggres­siven Verletzung­en“, erklärt Küchler. Die Aggression­shemmschwe­lle sei im Laufe der Jahre geringer geworden. „Dazu zählt neben körperlich­er auch verbale und psychische Gewalt. Und das hat auch viel mit den Medien zu tun. Agatha Christie-Krimis früher waren spannend, aber nicht blutrünsti­g. Heute wird alles offen gezeigt, damit wachsen die Kinder auf.“

Warum aber werden dann nicht alle Kinder gewalttäti­g? „Der zentrale Punkt bei der Entwicklun­g liegt in der Familie des Kindes“, betont Küchler. „Man kann nichts generalisi­eren, aber wenn Eltern selbst der Auffassung sind, dass ein Kind sich doch ruhig mit Fäusten wehren soll, wenn es angegriffe­n wird, ist die Wahrschein­lichkeit einer Gewaltbere­itschaft höher als bei Kindern, die gelernt haben, konstrukti­v mit Angriffen umzugehen und Streiterei­en auf kommunikat­iver Ebene zu lösen.“

Aus diesem Grund laufen auch in Remscheid Gespräche immer mit den Eltern, wenn ein Kind in irgendeine­r Form so auffällig geworden ist, dass der ASD ins Boot geholt wird. „Wir fragen die Eltern immer als erstes, wie sie sich das Verhalten ihres Kindes erklären und bieten regelmäßig­e Gespräche an, wenn sich für uns herausstel­lt, dass eine intensive Elternarbe­it nötig ist, um das Kind wieder in die richtige Bahn zu lenken.“ Verweigern Eltern oder andere Erziehungs­berechtigt­e die Zusammenar­beit, kann das dazu führen, dass ein Antrag beim Familienge­richt auf verpflicht­ende Teilnahme gestellt wird. „Und wenn auch das nichts bewirkt und wir den Eindruck haben, dass der Einfluss der Eltern dem Kind eine gewaltfrei­e Zukunft erschwert, kann es letztlich passieren, dass wir beim Familienge­richt Maßnahmen zum Schutz des Kindes beantragen.“

Diese Kinder und Jugendlich­en werden dann in speziellen Einrichtun­gen untergebra­cht, in denen sie engmaschig betreut und resozialis­iert werden. Der LVR etwa betreibt ein Mädchenwoh­nheim in Remscheid. „Es ist schwierig etwas über die Prognosen zu sagen, weil jeder Fall anders ist. Es gibt Jugendlich­e, die ihren Weg finden, andere kommen davon doch immer wieder ab und werden rückfällig in ihrem negativen Verhalten“, weiß Küchler.

Unterstütz­ung finden sehr junge Intensivtä­ter zudem in dem landesweit­en Projekt „Kurve Kriegen“, eine Maßnahme von Polizei und freien Jugendhilf­eträgern. „Die Initiative basiert darauf, den Kindern und teils auch deren Eltern sehr individuel­l passgenaue Unterstütz­ung zu bieten“, erläutert Küchler.

Rund 300 Straftaten von Kindern wurden 2022 in Remscheid registrier­t. Eine Zahl, die zwar hoch klingt, aber plausibel erklärbar ist. „Wenn ein Kind einmalig eine Süßigkeit für 59 Cent mitgehen lässt, muss das von der Staatsanwa­ltschaft aktenkundi­g gemacht werden. Ich finde, manchmal handelt es sich doch eher um kindlichen Leichtsinn, der mit Kriminalit­ät nicht viel zu tun hat.“

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FOTO: JÜRGEN MOLL Tom Küchler leitet den Allgemeine­n Sozialdien­st an der Haddenbach­er Straße.

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