Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Es ist erkennbar Sand im Getriebe“
Die Bundesfamilienministerin zeigt sich gesprächsbereit im Streit um die Kindergrundsicherung und erwartet Führung vom Kanzler.
Wie viel wird es allein kosten, wenn alle bedürftigen Familien den Kinderzuschlag und das Teilhabepaket in Anspruch nehmen?
Wir gehen davon aus, dass es allein fünf Milliarden Euro kosten wird, wenn Familien alle Leistungen, die ihnen zustehen, auch tatsächlich erhalten. Bislang nehmen zum Beispiel nur rund 35 Prozent der Berechtigten den Kinderzuschlag in Anspruch. Es gibt auch Studien, die schätzen, dass nur 15 Prozent der Kinder, die Anspruch auf Leistungen aus dem Teilhabepaket haben, diese auch bekommen. Wir wollen erreichen, dass die Kindergrundsicherung eine Bringschuld des Staates wird, sodass möglichst alle armutsgefährdeten Familien sie erhalten.
Sie wollen im Zuge der Reform das Existenzminimum für Kinder neu definieren. Was soll sich ändern?
Das Existenzminimum für Kinder ist seit über 15 Jahren nicht neu justiert worden. Wir haben aber seit einiger Zeit eine ungewöhnlich hohe Inflation, die die Ärmsten zwei- bis dreifach stärker trifft als Durchschnittsverdiener. Es wäre wünschenswert, dass sich das kindliche Existenzminimum stärker an der Mitte der Gesellschaft orientiert.
Wenn eine Familie kein Geld für Schreibtisch, Stuhl, Regal und Kinderbücher hat, dann wird es auch in der Schule schwierig. Für Kinder im Schulalter stehen für Möbel und andere Einrichtungsgegenstände etwa 3,80 Euro pro Monat zur Verfügung. Da muss man lange sparen für einen Schreibtisch mit einem ordentlichen Stuhl. So begrenzen wir die Chancen unserer Kinder. Ich möchte erreichen, dass alle Kinder gute Chancen haben.
Wie laufen die Verhandlungen mit Finanzminister Christian Lindner?
Die Verhandlungen haben noch nicht begonnen. Ich hatte noch kein Gespräch mit Herrn Lindner zur Haushaltsaufstellung für das kommende Jahr.
Lindner will 2024 rund 20 Milliarden Euro einsparen. Wo könnte bei Ihnen gekürzt werden?
Mein jährlicher Etat beläuft sich auf rund 13,5 Milliarden Euro. Davon sind fast 90 Prozent gesetzliche Leistungen wie beispielsweise das Elterngeld, also fest gebunden. Die restlichen gut zehn Prozent sind Programme wie die Jugendfreiwilligendienste, der Kinder- und JugendPlan oder das Förderprogramm „Demokratie leben!“. Würde hier gekürzt, schlägt das sofort durch bis zu den vielen Vereinen, Projekten und Initiativen, die sich mit großem Engagement für eine aktive Demokratie, für ein lebendiges Miteinander und für den Zusammenhalt der Gesellschaft einsetzen. Das kann niemand wollen.
Die Regierung könnte auch Leistungsgesetze ändern, zum Beispiel wie 2010 den Empfängerkreis für das Elterngeld reduzieren.
Man kann auch Gesetze ändern, um Steuermehreinnahmen zu generieren beispielsweise durch die Bekämpfung von Steuerbetrug oder durch den Abbau umweltschädlicher Subventionen.
Geplant war bisher, die Steuerklassen drei und fünf für Ehe- und Lebenspartner zum 1. Juli abzuschaffen. Klappt das noch?
Der Finanzminister arbeitet intensiv an einem Gesetzentwurf mit einer gleichstellungspolitischen Stoßrichtung. Die Abschaffung der Steuerklassen drei und fünf zugunsten eines gerechteren Verfahrens ist wichtig und überfällig. Denn 90 Prozent der Steuerpflichtigen mit der ungünstigen Steuerklasse fünf, die eine hohe Lohnsteuerbelastung mit sich bringt, sind Frauen. Wenn wir die Steuerlast zwischen Ehe- und Lebenspartner*innen, die bislang die Steuerklassen drei und fünf hatten, fairer verteilen, erhalten Millionen Frauen künftig jeden Monat mehr Netto vom Brutto. Dass ich auch eine Gegnerin des Ehegattensplittings bin, ist ja hinlänglich bekannt. Das Thema hat es aber leider nicht in den Koalitionsvertrag geschafft.
Ihr Plan, durch die sogenannte Familienstartzeit auch Vätern nach der Geburt eines Kindes zwei freie bezahlte Wochen zu ermöglichen, ist bei den Arbeitgebern nicht gut angekommen. Halten Sie an der Familienstartzeit fest?
Natürlich! Die Arbeitgeber sind nicht begeistert, weil sie in Zeiten des Fachkräftemangels einen noch stärkeren Mangel befürchten. Aber gerade die Familienstartzeit hilft dabei, dass wir am Ende mehr Fachkräfte als weniger zur Verfügung haben werden. Mit der Familienstartzeit setzen wir darauf, dass Frauen früher in den Beruf zurückkehren. Und dass sie ihre Stundenzahl erhöhen, weil Väter durch die Familienstartzeit insgesamt mehr Betreuungsarbeit übernehmen werden. Es gibt Studien, die genau das belegen. Gerade in der Zeit nach der Geburt entscheidet sich, wie Paare die weitere Kinderbetreuung unter sich aufteilen. Die Zusatzkosten für die Arbeitgeber sind überschaubar: Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik kommen für Unternehmen mit zehn Mitarbeitenden Mehrausgaben in Höhe von zehn bis 21 Euro und für Unternehmen mit 100 Mitarbeitenden Mehrausgaben in Höhe von 104 bis 208 Euro pro Monat hinzu. Für den ganzen Betrieb, wohlgemerkt.
Der Ton in der Ampel ist erkennbar rauer geworden, wenn es etwa um das Heizungsgesetz geht. Ist diese Koalition schon am Ende?
Nein. Wir wissen alle, dass vieles in den letzten Wochen nicht gut gelaufen ist. Die Situation ist sicher kritisch. Wichtig ist, dass die Koalition schnell wieder Handlungsfähigkeit zeigt. Gesetze weiter zu verschieben oder sich dem Gespräch zu verweigern, wie es in dieser Woche Teile der FDP-Fraktion beim Heizungsgesetz getan haben, ist keine Art, Handlungsfähigkeit zu zeigen.