Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„carpe diem“hofft auf weniger Bürokratie
Die carpe diem Gesellschaft klagt über Personalmangel – und meint damit nur nicht die Pflege. Wo liegen die Ursachen, wie stehen sie zu Kritik aus ihren Heimen und was macht die Politik ihrer Meinung nach falsch?
Wer Informatiker werden will, kann auf der Suche nach potenziellen Arbeitgebern eine lange Liste erstellen. Die „carpe diem“Gesellschaft ist dabei wohl bei den wenigsten Jobsuchenden für diesen Bereich auf dem Zettel. Aber „carpe diem“bietet unter anderem auch eine Ausbildung zum Fachinformatiker an. Derzeit sind in der Zentralverwaltung zum Beispiel Stellen im Controlling oder im kaufmännischen Bereich offen. Es sei allerdings nicht einfach, diese zu besetzen, weiß Verwaltungsleiterin Nicole Münch-Kiene: „Wir merken immer wieder, dass die Leute bei uns nur an Pflege denken und nicht wissen, welche Jobs wir noch anbieten.“In den Ausbildungen, etwa im kaufmännischen Bereich für das Gesundheitswesen, liegt der Fokus zu sehr auf Krankenhäusern. Pflegeheime kämen da oft zu kurz. Oft müssen branchenfremde Kräfte eingestellt und dann umgeschult werden. „Das kann mal sechs Wochen und mal sechs Monate dauern“, erklärt Geschäftsführer Thomas Goetz.
Er führt als Beispiel einen Finanzbuchhalter an, der vorher in der Steuerberatung gelernt hat. Wie groß die Umstellung zu der Arbeit bei „carpe diem“ist. Die komplizierten Strukturen in der Finanzierung und der hohe bürokratische Aufwand seien „exotisch“, wie es Münch-Kiene beschreibt. Goetz spricht von einem „Kulturschock“. Gleichzeitig seien diese Bedingungen eine spannende Herausforderung. „Die Leute aus anderen Branchen wissen noch gar nicht, wie viel Spaß Zahlen machen können“, meint Goetz. Das Gehalt sei dabei ähnlich wie in anderen Berufszweigen. Die Leiterin des Marketings, Julia Günter, sieht bei „carpe diem“darüber hinaus viele Möglichkeiten, aufzusteigen und sich weiterzuentwickeln. „Der Team-Gedanke steht im Vordergrund. Das merke ich hier jeden Tag.“
Bürokratische Hürden macht die Verwaltung nicht nur in der eigenen Arbeit aus. Sie merken es auch bei den Sozialämtern, weil dort die Anträge auf Sozialhilfe von Bewohnern teilweise über ein Jahr in der Bearbeitung brauchen. Zum 1. Juli 2023 wird eine Reform der Pflegeversicherung in Kraft treten, nach der Eltern ab dem zweiten Kind weniger für die Pflegeversicherung zahlen. Dafür muss die Verwaltung von „carpe diem“Geburtsurkunden von den Kindern aller Angestellten einholen. Es ist diese Art von bürokratischem Aufwand, die Goetz kritisch sieht. Keine der vielen vergangenen Pflegereformen hätten einen wirklichen Wandel gebracht. Sie seien kleine Reparaturen, „damit nicht alle Räder vom Wagen abfallen. Da werden drei Löcher an zwei Stellen geflickt“, meint der Geschäftsführer. Bei Reformen werde zu oft die Frage
nach der Finanzierung vernachlässigt. Die Verwaltung wünscht sich daher von der Politik in erster Linie eine Reduzierung des bürokratischen Aufwandes.
Die Pflegeversicherung wurde in den 1990er-Jahren eingeführt. Sie war als zusätzliche entlastende Säule gedacht. „Das Ziel war es, Altersarmut durch einen Pflegefall zu verhindern. Daran ist die Politik meilenweit, Milchstraßen-weit vorbei gerutscht“, findet Goetz. Kleinere ambulante Pflegedienste mit einer Handvoll Mitarbeitern seien aktuell am stärksten betroffen. „Da brechen gerade ganze Versorgungsstrukturen zusammen“, so Goetz.
Die „carpe diem“Gesellschaft hat mehr als eine Handvoll Mitarbeiter, insgesamt sind es 3500 an 35 Standorten. Der Personalmangel beschränkt sich laut Goetz nicht auf einzelne Regionen, sondern zeige sich im gesamten Gebiet immer wieder abwechselnd. „Wir haben bewusst viele Standorte, die nah aneinander sind, damit zur Not kurzfristig
ausgeholfen werden kann“, sagt Goetz. Auf die Frage, ob das für die Mitarbeiter problematisch sei, stellt er klar: „Das passiert nur in Ausnahmen und dazu wird niemand gezwungen.“Münch-Kiene ergänzt: „Daran haben wir auch gar kein Interesse, wir wollen die Leute ja halten.“Und Günter betont, dass die Motivation unter den Angestellten hoch sei.
Online-Bewertungen von Mitarbeitern ergeben kein einheitliches
Bild von „carpe diem“, eher einen Flickenteppich. Einige Standorte schneiden im Schnitt sehr gut ab, andere werden hingegen kritisiert. Ein wiederkehrendes Problem ist diesen Angaben zufolge die Kommunikation; Angestellte fühlen sich nicht gehört. Münch-Kiene betont, dass es sich dabei um subjektive Einschätzungen handele. Sie lobt die Kommunikationsstrukturen im Unternehmen: „Es gibt an jedem Standort täglich Besprechungsrunden,
wo Probleme angesprochen werden können.“Bewohner oder deren Angehörige bemängeln in mehreren Rezensionen zu oft wechselndes Personal und die Qualität der Pflege. Goetz weist darauf hin, dass die Institutionen in der Corona-Zeit wegen hoher Krankheitsstände vermehrt auf Zeitarbeiter zurückgreifen mussten, die oft nur wenige Wochen eingesetzt werden. Er hält fest: „Darunter leidet die Qualität natürlich.“
In der Zentralverwaltung von „carpe diem“in Wermelskirchen ist rund ein Viertel der 80 Angestellten für das Qualitätsmanagement zuständig. „Die sind ständig in den Heimen unterwegs und helfen dabei, dass die zentralen Standards eingehalten werden“, stellt Goetz klar, gibt dann aber auch zu: „Letztendlich ist es ein Mensch, der die Pflege macht. Mit einem Konzept erreicht man nicht zwangsläufig alle.“Missstände würden allerdings regelmäßig dokumentiert und angegangen. www.rbk-mobil.de www.stadtradeln.de