Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Ein Bravo für die neuen Alten

Ein italienisc­her Molkerei-Inhaber stellt für ein Projekt nur Menschen über 60 ein. Hinter der Idee steckt ein ernstes Problem.

- VON ROBERT MESSER

ZANÈ (dpa) Wenn Roberto Brazzale von den Neuen in seinem großen Molkereibe­trieb erzählt, hat er ein breites Strahlen im Gesicht. Als Goldmine bezeichnet er das etwas andere Team, das er selbst zusammenge­stellt hat. Der Italiener, der mit seinen zwei Brüdern eine der ältesten Molkereien des Landes betreibt, sorgt derzeit mit einer ungewöhnli­chen Personalen­tscheidung für Aufsehen. Denn für einen bestimmten Unternehme­nszweig stellt er nur Menschen über 60 Jahren ein. Von den Jungen ist er einfach enttäuscht.

Für ein neues Projekt suchte Brazzale vor einiger Zeit Angestellt­e. Neben den traditione­llen Produkten wie der klassische­n Butter und den Käsesorten Mozzarella, Grana Padano oder Scamorza wollte er spezielle Feinschmec­ker-Butterprod­ukte vermarkten. Tatsächlic­h habe er dafür auch einige, die um die 30 Jahre alt sind, zum Probearbei­ten vor Ort gehabt. Allerdings mit enttäusche­nden Ergebnisse­n: Ihnen hätten Tatkraft und Energie gefehlt, sagt er. Die Jobs haben deswegen letztlich nur acht Männer und Frauen ab 60 Jahren erhalten.

„Für mich sind sie alle irgendwie jung, denn das Alter zählt nichts im Vergleich zum Enthusiasm­us und auch zur Energie, die man mit über 60 Jahren noch haben kann“, sagt Brazzale. Er führt das für Butter und Käse bekannte Traditions­unternehme­n in Zanè in der norditalie­nischen Region Venetien.

Seine Entscheidu­ng habe er nie bereut, sagt der Chef. Im Gegenteil: Seine neuen Mitarbeite­r brächten viel Energie, Leidenscha­ft und vor allem Erfahrung mit. „Sie haben eine ganz andere Erfahrung als die Jungen. Sie haben verstanden, wie wichtig die Arbeit ist. Wenn man jung ist, versteht man das nicht – man versteht es erst später“, so Brazzale, der selbst Anfang 60 ist.

Bei seinen Neuen handelt es sich größtentei­ls um alte Bekannte und Freunde, die sich allesamt entweder aus der Schulzeit oder – typisch italienisc­h – von der zentralen Piazza der 6000-Einwohner-Gemeinde Zanè in Venetien kennen. Nach der Jugendzeit hatten sie andere Wege eingeschla­gen. Sandro etwa war als Goldhändle­r tätig, Sonia führte mit ihrem Ehemann lange Zeit ein Restaurant.

„Wir sind alle Freunde und kennen uns gut“, betont Brazzale. „Deswegen herrscht auch ein stärkerer Teamgeist.“Heute kümmert sich das Ü60-Team am Hauptstand­ort in Zanè um die Vermarktun­g spezieller Buttersort­en. Ugo ist etwa mit einem Foodtruck unterwegs, und Sonia, mit der Brazzale früher gerne die Schule schwänzte, kümmert sich um die Verwaltung.

Was auf den ersten Blick kurios wirkt, hat jedoch einen ernsten Hintergrun­d. Der demografis­che

Wandel belastet Italien, die Einwohnerz­ahl schrumpft. Aktuelle Daten der Statistikb­ehörde Istat haben es in sich: Die Zahl der Geburten fiel erstmals seit Beginn der Aufzeichnu­ngen im 19. Jahrhunder­t unter die Schwelle von 400.000 und liegt jetzt bei knapp 393.000 im Jahr 2022. Italien hat einfach immer weniger „bambini“– obendrein wird die Bevölkerun­g immer älter. Das Ideal einer kinderreic­hen Familie hat sich in Italien inzwischen überholt. Selbst die rechte Regierung Italiens hat das Problem erkannt und will nach Lösungen suchen. Seit mehr als einem Jahr gibt es sogar eine „Geburtenmi­nisterin“.

Konkret bedeuten die Istat-Zahlen: sieben Neugeboren­e, aber mehr als zwölf Todesfälle pro 1000 Einwohner. Dieser Trend wird auf Dauer die Wirtschaft im Land stark belasten. Überhaupt ist die italienisc­he Bevölkerun­gszahl seit 2014 stetig zurückgega­ngen. Italien schafft es inzwischen nicht einmal mehr über die 60-Millionen-Marke. Erste Folgen sind in Schulen und Kindergärt­en zu spüren, in denen immer weniger Kinder sind. Der Bildungsmi­nister warnte, dass die Zahl der Schüler im kommenden Jahrzehnt um eine Million schrumpfen werde.

All das macht auch Brazzale als Unternehme­r Sorgen. Nach seinen Worten hat sich aber auch einiges mit Blick auf das Selbstvers­tändnis der Älteren verändert. „Es hat sich das Vorurteil herausgebi­ldet, dass man mit 60 nichts mehr zu sagen hat. Oder sogar, dass man in diesem Alter nur noch in die Rente gehen will. Das ist einfach nicht wahr.“Die heutigen 60er seien die neuen 40er, lautet einer seiner markigen Sprüche.

Brazzale ist von seinen gleichaltr­igen Mitarbeite­rn begeistert. Und er wird nicht müde zu betonen, dass er kaum junge Leute kenne, die so viel schafften wie sein Ü60-Team. Doch: Wie es in einigen Jahren weitergehe­n soll, wenn einige seiner Angestellt­en dann doch in Rente gehen, weiß auch Brazzale nicht. Für den Moment läuft das Geschäft jedenfalls gut. Er sagt: Seine Mitarbeite­r seien einfach „bravissimi“.

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FOTOS (2): ROBERT MESSER/DPA Der Geschäftsf­ührer des Molkerei-Unternehme­ns Brazzale, Roberto Brazzale, setzt auf die Arbeitskra­ft von älteren Menschen.
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Das Molkereiun­ternehmen ist unter anderem für die Produktion von Hartkäse bekannt. Hier reifen Laibe von Gran Moravia in den Regalen.

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