Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Kinder werden nicht dümmer durch ChatGPT
Prof. Dr. Kirsten Schindler spricht zum Semesterstart darüber, wie Künstliche Intelligenz (KI) unsere Schulen und Unis erobert. Und sie erklärt, wo die eigentliche Gefahr von KI liegt.
REMSCHEID In den 50er-Jahren trugen die Computer der Nasa noch Röcke, die züchtig das Knie bedeckten. „Rocket Girls“hießen die Mathe-Cracks, die den Weg der ersten Raketen ins Weltall berechneten. Dafür brauchten die Raketenfrauen damals nur Stift und Papier – und Grips im Kopf. Dass Jahre später Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat, ist auch ihr Verdienst.
Heute werden Männer nicht mehr von Frauen zum Mond geschossen. Computer sind an die Stelle der Rocket-Girls getreten, was nicht heißt, dass Menschen zu solchen Rechenleistungen nicht mehr in der Lage wären. Allerdings, beklagen Forscher heute, hat schon der Einzug des Taschenrechners in die Schulen das mathematische Verständnis der nachwachsenden Generationen nicht gerade befördert. Verlernen die Kinder mit ChatGPT und anderen Chatbots, die Künstliche Intelligenz (KI) nutzen, nun auch das Schreiben und Lesen?
Nein, sagt Prof. Dr. Kirsten Schindler. „Ich glaube, sie müssen mehr lesen und schreiben können als heute und dazu andere Lese- und Schreibkompetenzen entwickeln“, erklärte die Wissenschaftlerin von der Bergischen Universität Wuppertal zum Auftakt des Uni-Semesters 2024.
Rund 70 neugierige Zuhörerinnen und Zuhörer waren zum Vortrag der Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in der
Lenneper Klosterkirche gekommen und wollten mehr erfahren zur Zukunft des Schreibens im digitalen Zeitalter.
Die wird durch KI nicht nur rosig, doch auch das ist sicher, erklärte die Professorin ihren Gästen: Es ist zwecklos, die KI zu verteufeln, denn sie wird unser Leben in den kommenden Jahren so oder so nachhaltig verändern. Also gilt es, Regeln für sie zu finden. Und zwar schnell, denn die technische Entwicklung hat ein Tempo angenommen, mit dem die Politik nicht mithält.
Für die Schulen und Universitäten geht es insbesondere um neue Prüfungsordnungen. Denn wie sollen Lehrerinnen und Lehrer Leistungen beurteilen, wenn unklar ist, ob Referate und Bachelorarbeiten vom Schüler stammt, oder ob sie per Mausklick mit ChatGPT erstellt wurde?
Wer aber annehme, mit der neuen technologischen Entwicklung wachse eine verblödete Generation heran, mache es sich zu einfach, sagt Kirsten Schindler. Schließlich sind die Ergebnisse von ChatGPT und weiteren immer nur so gut wie die Eingaben, mit denen der Nutzer die Künstliche Intelligenz zuvor gefüttert hat. Die Anweisungen, man spricht von Prompting, erfordern präzise und differenzierte Formulierungen
sowie solide Rechtschreibund Grammatikkenntnisse.
Außerdem legt die KI durchaus Wert auf gute Umgangsformen: „Sie erhalten bessere Outputs, wenn Sie höflich sind“, ließ die Linguistin ihre schmunzelnden Zuhörerinnen und Zuhörer wissen. Und auf manche Fragen antwortet sie gar nicht: „Wie baue ich eine Bombe?“, bleibt ohne Reaktion. „Wie bringe ich meine Nachbarin um?“, ebenfalls.
Was ChatGPT ausspuckt, bedarf zudem der Überarbeitung. Anderenfalls steht am Ende so etwas im Gedichtband: „In Solingen und Remscheid, oh welch‘ Pracht – Entfaltet sich des Lebens ganze Macht
– Hier pulsiert der Nabel der Welt, so grandios – Wo Klingenkunst und Tüchtigkeit sind famos.“
„Da ist noch Luft nach oben“, befand Kirsten Schindler. Doch ChatGPT und andere KI-basierte Anwendungen lernen hinzu und werden mit jeder Anwendung besser. Gefüttert mit riesigen Textmengen aus dem Internet macht das System eigene Vorhersagen, welches Wort auf das vorhergehende Wort folgen wird. Dabei bevorzugt das Programm Worte, die besonders häufig verwendet werden gegenüber solchen, die seltener auftauchen – und damit irgendwann aus dem Sprachgebrauch verschwinden.
In diesem Punkt macht Kirsten Schindler sich deshalb keine Illusionen: „Unsere Sprache droht, ärmer zu werden.“Das größte Gefahrenpotenzial sieht die Wissenschaftler jedoch auf einem anderen Gebiet. Längst sollten wir nicht mehr jedem Bild trauen, das uns in den sogenannten Sozialen Netzwerken in unsere Timeline gespült wird.
Täuschend echt wirkt etwa ein Foto von Donald Trump, der in einer Gruppe von schwarzen US-Amerikanern posiert. Tatsächlich hat es das Bild nie gegeben. Kontrolle? Regulierung? Verbot? Fehlanzeige. „Das“, sagt die Professorin, „ist in der Tat Demokratie-zersetzend.“
Allen, die sich mehr für das Thema interessieren, empfiehlt Prof. Dr. Kirsten Schindler das Buch „Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“von Miriam Meckel und Léa Steinacker (ISBN-10: 3498007106 / ISBN-13: 978-3498007102 / erschienen bei Rowohlt). Sehenswert ist auch die TV-Dokumentation auf Arte „Schlaue neue Welt – Das KIWettrennen“.