Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„In dieser Frage trifft der Kanzler den Nerv“

Niedersach­sens Ministerpr­äsident spricht über den Taurus-Streit, er macht der Ampel Dampf – etwa bei den Energiepre­isen und beim Abbau der Überreguli­erung. Und er weiß auch schon, mit welchem Slogan die SPD in den Wahlkampf ziehen könnte.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND HAGEN STRAUSS FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Ministerpr­äsident, wenn man von Hannover auf die Ereignisse der letzten Wochen in Berlin blickt – was denkt man da?

WEIL Wir haben schon schlechter­e Wochen gehabt. Aber wenn Sie auf den Streit um die Lieferung von Taurus-Marschflug­körpern an die Ukraine anspielen: Der wird in Berlin mit großer Leidenscha­ft geführt, außerhalb der Hauptstadt jedoch kaum. Ich wundere mich nicht, dass zahlreiche Umfragen einen großen Rückhalt der Position des Bundeskanz­lers in der Bevölkerun­g ausweisen. Diese bekanntlic­h sehr stark von der Union und manchen aus der FDP und den Grünen betriebene Diskussion wird den Initiatore­n auf die Füße fallen.

Hinter dem Nein des Kanzlers steht auch die gesamte Partei?

WEIL Ja. Aber eben nicht nur die Partei. In dieser Frage trifft er den Nerv der Menschen. Die große Mehrheit in der Gesellscha­ft findet auch im dritten Kriegsjahr, dass man die Ukraine unterstütz­en muss. Das ist nicht selbstvers­tändlich. Die Grundlage dafür ist die Erwartung an die Bundesregi­erung, sehr vorsichtig und umsichtig vorzugehen. Und genau das findet statt.

Kritiker sagen, wegen der Wahlen inszeniere sich Olaf Scholz jetzt als Friedenska­nzler. Wie sehen Sie das?

WEIL Ganz anders. Ich sehe kein taktisches Manöver. Der Kanzler ist sich seit Beginn des Ukraine-Krieges treu geblieben. Wir unterstütz­en die Ukraine, aber Deutschlan­d wird nicht Kriegsbete­iligter werden. So entsteht Glaubwürdi­gkeit. Und in dieser Frage hat er definitiv das notwendige Vertrauen der Bevölkerun­g.

Mit Blick auf die Lage der Wirtschaft ist die Parole des Kanzlers: Alles nicht so schlimm. Ist dem so?

WEIL Es gibt durchaus Handlungsb­edarf. Das ist unbestritt­en. Deutschlan­d hinkt derzeit im Vergleich mit den anderen EU-Ländern und den OECD-Mitgliedst­aaten deutlich hinterher. Wir haben erkennbar große Baustellen – und zwar andere, als der Bundesfina­nzminister und der Wirtschaft­sminister thematisie­ren.

Welche sind das?

WEIL Ich bin sehr viel in Unternehme­n unterwegs. Da begegnen mir immer drei Themen: Energiepre­ise, Überreguli­erung und Arbeitskrä­ftemangel. Das sind aktuell die drei wunden Punkte unserer Wirtschaft. Wenn es uns gelingt, diese

Probleme zu lösen, wird sich eine ganz andere wirtschaft­liche Dynamik entwickeln. Das setzt ein sehr konsequent­es Vorgehen voraus.

Wie wollen Sie die Energiepre­ise senken?

WEIL Es stimmt, dass sich die Preisentwi­cklung beruhigt hat. Aber im internatio­nalen Vergleich ist bei uns Energie nach wie vor überdurchs­chnittlich teuer. Das ist vor allem für unsere Exportindu­strie ein großer Nachteil. Ich bin ein großer Anhänger eines Brückenstr­ompreises für Unternehme­n, die besonders energieint­ensiv sind. Die Bundesregi­erung hat leider einen entgegenge­setzten Weg eingeschla­gen. So hat sie beispielsw­eise den Bundeszusc­huss zu den Netznutzun­gsentgelte­n gestrichen. Dadurch ist

Energie für die Verbrauche­r teurer geworden. Das muss meines Erachtens rasch korrigiert werden.

Das heißt?

WEIL Es ist nicht richtig, den Netzausbau über die Netzentgel­te eins zu eins auf die Verbrauche­rpreise umzulegen. Das machen wir nicht beim Straßenbau, auch nicht bei der Schiene. Der Staat muss hier einen erhebliche­n Teil finanziere­n, ansonsten sind viele Unternehme­n schlicht nicht wettbewerb­sfähig. Und ich sage noch einmal: Für mich ist das Thema Brückenstr­ompreis nicht erledigt. Den Handlungsb­edarf bestreitet eigentlich niemand. Für die Ampel ist dieses Thema aber hoch symbolisch. Das halte ich für falsch. Deswegen müssen wir noch mal in Ruhe darüber reden, wie wir die Weichen anders stellen können.

Ihr zweiter Punkt war die Überreguli­erung. Was erwarten Sie da von der Bundesregi­erung?

WEIL Wir haben im November mit der Bundesregi­erung einen Beschleuni­gungspakt geschlosse­n. Meine dringende Erwartung ist, dass jetzt im Rahmen des Paktes endlich alle notwendige­n gesetzlich­en Änderungen auf den Tisch gelegt werden. Der Kanzler hat mal davon gesprochen, dass rund 100 Bundesgese­tze neu geregelt werden müssten. Ich sage der Ampel: Dann verändert sie auch. An dieser Stelle muss die Bundesregi­erung jetzt einen Schwerpunk­t setzen. Unsere in vielen Bereichen praktizier­te Absicherun­gsmentalit­ät ist nicht mehr zeitgemäß. Da können wir sehr viel Dynamik freisetzen.

Thema Migration: Hat sich etwas in Ihren Kommunen verändert?

WEIL Wir arbeiten konstant an einer Verbesseru­ng der Aufnahmeka­pazitäten. Es gibt leider keine Maßnahmen, die für sich genommen schnell und unkomplizi­ert zu einem Rückgang der Zugangszah­len führen würden. Notwendig sind verschiede­ne Maßnahmen, die ineinander­greifen. Da ist seit dem Herbst wirklich eine Menge geschehen. Die bereits praktizier­ten Grenzkontr­ollen beispielsw­eise machen durchaus einen Unterschie­d. Sie müssen unbedingt beibehalte­n und möglicherw­eise sogar intensivie­rt werden. Wir haben als Staat ein großes Interesse daran, dass Menschen gar nicht erst zu uns kommen, wenn sie ohnehin kein Bleiberech­t haben. Diese Menschen schon an der europäisch­en Außengrenz­e zurückzuwe­isen, ist richtig. Genauso übrigens wie die Intensivie­rung von Abschiebun­gen derjenigen, die hier keinen Schutz genießen.

Nervt Sie der Widerstand der Grünen gegen die Bezahlkart­e?

WEIL Die Grünen merken auch, dass die Aufnahmemö­glichkeite­n und die Aufnahmebe­reitschaft in der Gesellscha­ft gesunken sind. Sie

mussten sich bereits an vielen Stellen bewegen. Ich bin optimistis­ch, dass wir auch bei der Bezahlkart­e zu guten Lösungen kommen.

Den Job-Turbo für ukrainisch­e Flüchtling­e begrüßen Sie?

WEIL Ja. Wir müssen die Arbeitsmar­ktintegrat­ion unbedingt vorantreib­en. Eine raschere und unkomplizi­ertere Arbeitsauf­nahme würde auch der Wirtschaft helfen. Je mehr Schutzsuch­ende für ihren Unterhalt arbeiten, desto höher wird die Akzeptanz sein. Und die Sprache zu sprechen, lernt man auch auf der Arbeit, gerne auch in Verbindung mit Sprachunte­rricht.

Wie blicken Sie auf den Zustand Ihrer Partei? Die SPD dringt laut Umfragen nicht wirklich durch, in einer Zeit, in der die Rechtsextr­emen erstarken.

WEIL Die SPD hat 1998 einen Wahlkampf gewonnen mit dem Slogan „Sicherheit im Wandel“. Dieser Gedanke ist aktueller denn je, die Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Verlässlic­hkeit. Es geht nicht nur um Sicherheit im öffentlich­en Raum, sondern vor allem auch um soziale Sicherheit und politische Stabilität. Je stärker es gelingt, Sicherheit und Stabilität zu vermitteln, desto mehr wird die SPD profitiere­n. Sie steht als Kanzlerpar­tei besonders im Fokus. Die Haltung zum Ukraine-Krieg ist dafür ein gutes Beispiel. Der Kanzler hat 2022 klar gesagt: Wir helfen der Ukraine, aber wir werden nicht in den Krieg hineingezo­gen werden. Es ist richtig, dass er das mit der gleichen Verve weiter vertritt, das schafft Glaubwürdi­gkeit und Vertrauen.

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