Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

1000 Seiten Corona-Protokolle

Das Robert-Koch-Institut hat nach einer Klage Dokumente seines Krisenstab­s herausgege­ben. Die Papiere zeigen, wie Entscheidu­ngen zu Beginn der Pandemie diskutiert wurden. Passagen etwa zur Bewertung der Lage 2020 lösen Wirbel aus.

- VON DAVID GRZESCHIK

DÜSSELDORF Vier Jahre ist es her, dass das Coronaviru­s das gesellscha­ftliche Leben in Deutschlan­d zum ersten Mal lahmlegte. Strenge Kontaktbes­chränkunge­n sollten die Ausbreitun­g des neuartigen Erregers verhindern. Bald schon mussten neben Schulen auch Friseure, Restaurant­s und zahlreiche Geschäfte schließen. Aus medizinisc­her Sicht gilt die Pandemie als überwunden – gesellscha­ftlich wirkt sie aber bis heute nach. Nun hat die Diskussion um die politische Aufarbeitu­ng der Corona-Krise wieder Auftrieb erhalten. Grund dafür sind öffentlich gewordene Protokolle des CoronaKris­enstabs im Robert-Koch-Institut (RKI). Das Online-Magazin „Multipolar“, das Kritiker in der Nähe verschwöru­ngserzähle­rischer Publikatio­nen sehen, hatte die Freigabe der Dokumente eingeklagt.

Die Protokolle umfassen mehr als 1000 Seiten und beziehen sich auf den Zeitraum zwischen Januar 2020 und April 2021. Sie fallen damit in den Zeitraum der ersten Lockdowns. Obwohl viele Passagen geschwärzt sind, geben die Dokumente Hinweise darauf, wie Entscheidu­ngen in der Hochphase der Pandemie fielen. Einige Stellen werfen Fragen auf.

Unklar ist zum Beispiel, wie genau über die Gefährlich­keit des Coronaviru­s beraten wurde. Im Ergebnispr­otokoll zur Krisenstab­ssitzung vom 16. März 2020 ist etwa vermerkt, dass eine neue Risikobewe­rtung vorbereite­t wurde. Sie solle „diese Woche hochskalie­rt werden“, heißt es. Und weiter: „Die Risikobewe­rtung wird veröffentl­icht, sobald (Name geschwärzt) ein Signal dafür gibt.“Den Akteur, der die Freigabe erteilen soll, hat das RKI unkenntlic­h gemacht. Wie eine Sprecherin des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums am Montag sagte, steht hinter der Schwärzung „ein interner Mitarbeite­r des RKI“. Den Vorwurf, dass es damals eine externe Einflussna­hme auf eine höhere Risikobewe­rtung zur Corona-Lage gegeben habe, wies die Sprecherin zurück. „Das RKI ist in seinen fachlichen Bewertunge­n von Krankheite­n absolut unabhängig“, sagte sie.

Eine weitere Stelle in den Dokumenten, die Fragen aufwirft, stammt aus dem Oktober 2020. Hier heißt es laut RKI, es gebe „keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitssch­utzes“. Und: Man könne diese Informatio­n auch der Öffentlich­keit zugänglich machen. Die Allgemeinh­eit erfuhr von der Bewertung des RKI damals allerdings nichts. Im darauffolg­enden Winter wurde die Maskenpfli­cht sogar verschärft.

Auch bei dem Impfstoff von Astrazenec­a zeigte sich das Institut anfangs kritisch. Es kam im Januar 2021 zu dem Schluss, dass der Impfstoff „weniger perfekt“und kein Selbstläuf­er sei. Der Einsatz müsse diskutiert werden. In der Bewertung von Lockdowns zeigte sich das RKI derweil durchaus differenzi­ert. „Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenz­en als Covid selbst“, heißt es im Ergebnispr­otokoll zur Sitzung vom 16. Dezember 2020. Der Hinweis bezog sich auf den Verlauf der Pandemie in Afrika.

Doch was folgt nun aus der Veröffentl­ichung der RKI-Papiere? Bei X, ehemals Twitter, scheinen Verschwöru­ngsideolog­en die Antwort längst gefunden zu haben. Am Montagvorm­ittag ist der Hashtag #RKIFiles auf Platz eins in den Deutschlan­dtrends. Um eine differenzi­erte Diskussion zu den Inhalten der Dokumente geht es den meisten XNutzern allerdings nicht. Sie sehen sich vielmehr darin bestätigt, dass die gesamte Corona-Pandemie ein abgekartet­es Spiel von Eliten gewesen sei. Woran genau sie das mit Bezug auf die Protokolle festmachen, ist zumeist nicht zu lesen.

Das RKI hat sich zur Veröffentl­ichung der Papiere noch nicht ausführlic­h geäußert. Auch aus der Spitzenpol­itik ist bislang wenig zu hören. Einer, der die Dokumente kommentier­t hat, ist der ehemalige Ministerpr­äsident von NordrheinW­estfalen, Armin Laschet (CDU). Der 63-Jährige sagte am Sonntagabe­nd im ZDF, Politik und Medien müssten ihren Umgang mit der Pandemie kritisch hinterfrag­en. Das RKI müsse unabhängig­er sein und hätte damals seine internen Debatten ausspreche­n müssen, sagte Laschet.

Zudem befürworte­te der Politiker die Einrichtun­g einer EnqueteKom­mission im Bundestag, um zu klären, wie mit einer zukünftige­n Pandemie umzugehen sei. Anders sieht das Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD). Er sagte am Freitag im ZDF, dass er von einer parlamenta­rischen Aufarbeitu­ng der Corona-Krise „nicht so viel“halte. Es handle sich um einen Ideologiek­ampf, den sich rechte Gruppen zu eigen machen wollten.

Fraglich ist allerdings, ob sich die Diskussion auf diese Weise beenden lässt. lm Mai will „Multipolar“laut eigener Aussage vor dem Berliner Verwaltung­sgericht erreichen, dass das RKI die Dokumente ungeschwär­zt herausgibt. Spätestens dann dürfte die Diskussion um die Aufarbeitu­ng weitergehe­n.

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FOTO: DPA Lothar Wieler, Präsident des RKI, 2021 mit FFP2-Maske. Für deren Nutzen gab es im Oktober 2020 laut RKI-Dokumenten keinen wissenscha­ftlichen Beleg.

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