Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Leinen los und auf ins Familien-Abenteuer!
Ab Nieuwpoort an der Nordsee kann man per Hausboot ein wunderbares Stückchen Flandern entdecken. Und das sogar ohne Führerschein. Schiff ahoi!
Goldene Sonnenstrahlen fallen durchs Blätterdach und malen tanzende Kringel aufs geheimnisvoll grün schimmernde Wasser. Die Baumriesen am Fluss neigen sich über mir zu einer Naturkathedrale, die ich ehrfürchtig bestaune. Da! Vor uns steigt aus dem Dickicht ein Graureiher mit trägem Flügelschlag auf. Er kreuzt knapp vorm Bug, segelt majestätisch eine Handbreit über dem Wasser davon und landet ein Stück voraus im Schilf am anderen Ufer. So eine Idylle! Ich wette, genau an dieser Stelle saß Monet, der große Impressionist, auch schon an seiner Staffelei. Er war fasziniert von Lichtspielen auf dem Wasser und hatte sogar ein Atelier auf einem Boot eingerichtet, um… „Hörst Du? Gleich sind wir an der Schleuse. Ran an die Leinen!“dringt das Kommando vom Steuerstand unseres Hausbootes an mein Ohr. Ja, Herrschaftszeiten! Man wird doch wohl mal seine Gedanken schweifen lassen dürfen! Allerdings: Als Heck-Wache muss man im richtigen Moment auf Zack sein. Etwa, um wie jetzt beim Einfahren in die Schleuse das Boot sicher an einem Poller zu vertäuen. Ein Hausboot-Urlaub ist vielleicht etwas für Tagträumer, aber keinesfalls für Schlafmützen.
Spannende Manöver waren aber nicht der Grund, als Familie mit Sohn Simon und seiner Freundin Michelle per Hausboot ein Stück Bilderbuch-Flandern zu durchschippern. Wir Eltern wollten mal wieder richtig Zeit verbringen mit den erwachsenen „Kindern“. Es sollte eine Mischung sein aus Naturgenuss und Sightseeing in Städtchen mit viel Flair. Plus der Hauch Abenteuer, mal etwas ganz Neues zu probieren.
In der Marina vom Nieuwepoort schiffen wir ein. Erstaunlich komfortabel wirkt der „Kutter“, wie wir liebevoll unser schwimmendes Zuhause für die nächsten Tage nennen. Drei Doppelkabinen, alle mit eigenem Bad. Die Kombüse ist praktisch, der Salon geräumig. Und auf dem Sonnendeck kann man auch prima sitzen.
Die Posten an Bord verteilen sich wie von selbst. Vater Thomas ist der Kapitän. Simon dient als Ausguck und Maat am Bug. Michelle ist unsere Schleusen- und Klappbrückenbeauftragte. Denn oft muss man die Wärter anrufen und um Öffnung bitten. Und ich? Bin irgendwie fürs große Ganze zuständig. Und zuweilen eben am Heck.
Die ersten Flussmeilen auf der Ijzer kitzeln noch die Nerven. Doch wir lernen schnell. Ein Schiff reagiert sehr langsam auf die Steuerung, dann aber mit Schmackes. Schwund ist auch prompt zu beklagen. Mal wird ein Enterhaken versenkt, mal fegen kräftige Böen Sitzkissen davon. Unser schwerster Verlust: Die Fotodrohne ruht nach einem missglückten Landeversuch nun auf dem Grund des Flusses. Reden wir lieber nicht weiter drüber.
Unsere erste Station ist Veurne. Wie eigentlich überall in Belgien begeistert auch in diesem charmanten Ort vor allem der „Grote Markt“: gesäumt von ehrwürdigen Kaufmannshäusern mit Treppengiebeln, rundherum die Türme der Kirchen und der prachtvolle Belfort-Glockenturms am Rathaus, der zum
Unesco-Weltkulturerbe gehört. Staunend wandeln wir durch die malerischen Gassen wie durch das Set für einen Historienfilm. Hier der verwunschene Sankt Walburgapark, da die gleichnamige gotische Kirche, mit Kunstschätzen gefüllt. Und dort das einstige Hotel „Die Nobele Rose“, wo Berühmtheiten wie die Schriftsteller Victor Hugo und Rainer Maria Rilke logierten. Dieser war so bewegt, dass er dem wuchtigen Turm der St. Nikolaus-Kirche ein Gedicht widmete. Also nichts wie rauf! Nach ungezählten Stufen, zuletzt über eine Holzstiege, treten wir auf die Außengalerie. Das Panorama ist überwältigend: Über die in kupferrotes Abendlicht getauchte Stadt, bis weit hinaus ins Land, wo man am Horizont die Nordsee ahnt.
Der Tag geht, wie auch die folgenden, früh zu Ende. Viel gesehen, konzentriert gefahren, geschleust, abgelegt, angelegt. Das schafft uns Neulinge ein bisschen. Dazu der Wind um die Nase und die Sonne im Gesicht. Als Sundowner noch ein belgisches Bier, dann alle ab in die Kojen.
Am nächsten Morgen sind wir überrascht: Wie traumhaft haben wir geschlafen! Das sanfte Schaukeln auf dem Wasser wirkt Wunder. Mit acht Stundenkilometern tuckern wir weiter nach Ypern. Ab und zu gleiten Einheimische auf ihren Booten vorüber, grüßen freundlich. Nirgends rückt der Alltag so schnell in weite Ferne wie hier an Bord.
Spaziert man auf Yperns Marktplatz, wähnt man sich fast in Brüssel. So viele imposante Gebäude, verlockende Restaurants, Cafés und Geschäfte. Dabei hat die Stadt nur 35.000 Einwohner. Jetzt ist höchste Zeit, das leckerste Kulturgut Belgiens zu probieren: Pralinen.
Schokoladenduft zieht uns zur Confiserie „Peter De Groote“. Drinnen schon optisch Zuckerschock: deckenhoch Regale mit Nasch-Preziosen aller Art. Trüffel mit Lavendelcreme oder Pfirsich Melba? Lieber Basilikum und Sanddorn? Ach, besser erst mal Rhabarber-Rosmarin. Himmel, wie soll man sich bei deiser Auswahl denn entscheiden?
Es gibt noch andere für Flandern traditionelle Souvenirs, die mich reizen: Accessoires aus Gobelin-Stoff in tollen Dessins. Im Shop der Tourist-Info suche ich mir eine Kosmetiktasche
mit Renaissance-Muster aus. Shopping erledigt.
Auf der Weiterfahrt entdecken wir schon von Ferne die monumentalste Sehenswürdigkeit Flanderns: den 84 Meter hohen Ijzer-Turm. Direkt gegenüber legen wir am Kai des idyllischen Städtchens Diksmuide an.
„Nie wieder Krieg!“steht am Mahnmal für den Frieden. In der Umgebung tobten die furchtbaren Schlachten des Ersten Weltkrieges. Auf 22 Etagen im Turm ist das dokumentiert. Simon interessiert das als Hobby-Historiker und mich aus einem besonderen Grund. Von der Aussichtsplattform schweift der Blick in die Ebene drum herum. Stille. Nur der Wind singt eine melancholische Weise. Irgendwo da draußen fielen zwei Brüder meiner Großmutter, Hans und Ernst. Einer ihrer Kameraden war der Romancier Erich Maria Remarque. Später schrieb er den Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“, Kultbuch einer ganzen Generation. Ich muss es endlich einmal lesen.
Die Zeit verstreicht, wir lassen uns treiben. Alles im Fluss, im wahrsten Sinne. Auf dem Rückweg zur Hausboot-Marina beobachten wir entzückende Szenen: Kajakfahrer pflücken vom Boot aus Brombeeren, Kinder schwingen sich an Weidenzweigen hinaus aufs Wasser. Und ein älterer Herr döst auf einem Ponton im Liegestuhl, mit seiner Katze auf dem Bauch. Berührende Miniaturen des Alltagslebens, herrlich entschleunigend. „Mama, Du kannst ja mal richtig relaxen“lobt Simon mich beim letzten Frühstück auf dem Sonnendeck. Ja, ich bin über meinen Schatten gesprungen. Kein durchkomponiertes Reiseprogramm wie sonst, um nichts zu versäumen. Wir haben viel gewonnen. Unvergessliche Erlebnisse und interessante Erkenntnisse. Hausbootfahren ist ein bisschen wie Camping auf dem Wasser. Aber mit etwas gutem Willen kann man sich prima arrangieren – und eine besondere Form von Nähe erfahren. Die vier Tage Testlauf waren ein gelungener Versuch. Beim nächsten Mal, soviel ist klar, wird eine ganze Woche gebucht. Auf einem irischen Flusslauf? Einem kanadischen See? Oder in der Lagune von Venedig? Man wird ja wohl mal träumen dürfen…