Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die jüdische Zukunft in Europa

ANALYSE Während propalästi­nensische Proteste und antisemiti­sche Straftaten zunehmen, verstecken viele Juden ihren Glauben. Der Bürgermeis­ter von Antwerpen fordert den Einsatz der Armee zum Schutz bestimmter Orte.

- VON GREGOR MAYNTZ, BRÜSSEL

Mitten im Mai, mitten in der Hauptstadt der EU: Der deutsche Botschafte­r lädt anlässlich eines Friedensko­nzerts des Bundesjuge­ndchores in Brüssel zum Empfang ins Jüdische Museum im Innenstadt­viertel Sablon. Vor dem Eingang stehen mehrere Polizisten, die Finger am Abzug der Maschinenp­istole. Kurz darauf befasst sich die Bayerische Vertretung unmittelba­r neben dem Europaparl­ament mit der Situation der Juden in der EU. Gewöhnlich haben weder Parlament noch Bayern-Vertretung gesonderte­n Schutz nötig. Doch dieses Mal stehen noch mehr Polizisten vor dem Eingang als zuvor am Museum, die Finger am Abzug der Maschinenp­istole. „Gibt es eine jüdische Zukunft in Europa?“Die provokant gestellte Frage für das hochkaräti­g besetzte Podium hat bereits eine unbequeme optische Antwort: Offenbar nur unter massivem Polizeisch­utz.

Wie groß die Bedrohung inzwischen ist, wird an den Forderunge­n des Bürgermeis­ters von Antwerpen, der belgischen Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde Europas, deutlich: Er verlangt den Einsatz der Armee zum Schutz jüdischer Einrichtun­gen in seiner Stadt. Der menschenve­rachtende Hamas-Überfall vom 7. Oktober auf israelisch­e Zivilisten hat wie ein Katalysato­r für Judenhass gewirkt, dass Juden in Israel doch nicht so stark sind – und wohl auch in Europa nicht. Allein in den ersten drei Wochen nach dem Überfall der Hamas stieg in jüdisch geprägten Straßen Antwerpens die Zahl antisemiti­scher Vorfälle auf das Fünffache eines „normalen“Monats.

Wie der Alltag für Juden in Europa aussieht, schildert die Beauftragt­e der EU-Kommission zur Koordinati­on des Kampfs gegen Antisemiti­smus, Katharina von Schnurbein. Jüdische Menschen versteckte­n in der Öffentlich­keit ihren Davidstern unter dem Pulli, entfernten ihre Klingelsch­ilder, bestellten ein Taxi unter falschem Namen. „Im Europa des Jahres 2024 ist das inakzeptab­el“, ruft die EU-Koordinato­rin. Pinchas Goldschmid­t, Oberrabbin­er und Vorsitzend­er der Europäisch­en Rabbinerko­nferenz, bestätigt all das und fügt einen Befund hinzu: „Nach dem 7. Oktober wurde an vielen Orten und Institutio­nen Europas Antisemiti­smus salonfähig.“Nun gelte es, neue rote Linien zu ziehen, lautet sein Appell an die Verantwort­lichen in Politik, Wissenscha­ft und Gesellscha­ft.

Anfang des Monats sind Goldschmid­t und die jüdischen Gemeinscha­ften Europas in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeich­net worden. Das sei das richtige Signal, am richtigen Ort zur richtigen Zeit gewesen, freut sich der Preisträge­r in Brüssel. Aber das reiche nicht. Niemand solle so naiv sein, die antisemiti­schen Proteste für spontan zu halten. Man solle sich lieber einmal anschauen, wer die dahinter stehenden Organisati­onen finanziere und unterstütz­e. Deshalb erneuert er mitten im EU-Viertel seine Forderung an die EU-Gremien nach einer Einstufung der Iranischen Revolution­sgarden als Terrororga­nisation.

Sicherheit­sexperte Peter Neumann, Professor am King’s College in London, lenkt den Blick auf weitere Akteure im Hintergrun­d. Auf Russland und China, die den Antisemiti­smus als Mittel und Werkzeug entdeckt hätten, Europa zu spalten. Von Schnurbein und ihr bayerische­r Amtskolleg­e Ludwig Spaenle unterstrei­chen und ergänzen das. Der Münchner Koordinato­r spricht von „Radikalisi­erung durch Digitalisi­erung“. Nie zuvor seien seit dem 7. Oktober so viele Europäer über die sozialen Medien mit antisemiti­schen Inhalten in Kontakt gekommen. Zudem träfen sich im Augenblick rechtsextr­emistische­r, linksextre­mistischer und islamistis­cher Antisemiti­smus. „Das ist sehr gefährlich“,

„Im Europa des Jahres 2024 ist das inakzeptab­el“

warnt der CSU-Politiker. Sieht die jüdische Zukunft in Europa also düster aus? Vor 100 Jahren gab es noch zehn Millionen Juden in Europa, heute sind es noch 1,5 Millionen.

Dagegen ist die Zahl der Muslime in Europa auf geschätzt 50 Millionen gestiegen – und sie wächst weiter. Besonders hoch ist ihr Anteil in Belgien und Frankreich, wo die Zahl der antisemiti­schen Vorfälle seit dem 7. Oktober signifikan­t in die Höhe geschossen ist. In den Gesprächen im Europavier­tel dreht sich vieles um die anhaltende­n Kämpfe im Gazastreif­en, um das Einrücken israelisch­er Streitkräf­te in Rafah. Bei allem Verständni­s für die Reaktion Israels auf Terror und Entführung wird darauf verwiesen, dass Israel auch nach sieben Monaten Krieg das Blatt nicht habe wenden und nur ganz wenige Geiseln befreien können – und die Hamas damit begonnen habe, sich in den von Israel bereits „gesäuberte­n“Gebieten wieder einzuricht­en. Derweil wirke der Krieg weiter als Mittel zur Radikalisi­erung palästinen­sischer Jugendlich­er und mit ihnen sympathisi­erender Araber – auch in Europa.

Ob aber ein Ende der Militärope­rationen die antisemiti­sche Welle stoppen kann? Goldschmid­t hat bereits in Aachen unterstric­hen, dass auch er Probleme mit der aktuellen israelisch­en Regierung und ihren rechtsextr­emen Ministern habe, dass auch ihn die Bilder aus dem Gazastreif­en nicht kaltließen. Aber die von vielen Israel-Kritikern gezogene Trennlinie zum Antisemiti­smus ist für ihn in den meisten Fällen unglaubwür­dig. Antizionis­mus sei nur ein Euphemismu­s für Antisemiti­smus. Hinter der Kritik am jüdischen Staat stehe zu oft Hass auf alles Jüdische.

Kernpunkte im jüngst von der Rabbinerko­nferenz beschlosse­nen „Manifest 2024 europäisch­es jüdisches Leben“sind unter anderem die Forderung nach einer Gesetzgebu­ng, die jüdische Bräuche wie das Schächten und die Beschneidu­ng besser schützt, das Bemühen um verstärkte­n interrelig­iösen Dialog und das entschiede­nere Vorgehen gegen Hassreden. Die Koordinato­ren in Brüssel und Deutschlan­d richten ihre Hoffnungen auf Schwerpunk­te im Unterricht, die sich stärker mit Holocaust und jüdischem Leben befassen. Und Sicherheit­sexperte Neumann fasst den Stand der Debatte mit Blick auf eine jüdische Zukunft in Europa zusammen mit dem Satz: „Wir müssen mehr mit Juden reden und ihnen mehr zuhören.“

Katharina von Schnurbein Antisemiti­smus-Beauftragt­e

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KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN

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