„Zeitung – ein Medium, das verbindet“
Gesellschaft In Zeiten von Schnell-Schnell-Nachrichten werden hintergründige Analysen immer wichtiger. Warum seriös aufbereitete Informationen unvermeidlich Geld kosten, muss dem Leser erklärt werden. Ein Gastbeitrag von Bernhard Pörksen
Es ist eine Geschichte, die einen Vorgeschmack auf die Zukunft der Medien gibt. Sie ereignet sich am
26. Februar 2015. An diesem Tag registriert Cates Holderness, Mitarbeiterin des Medienunternehmens „Buzzfeed“, auf der Blogplattform „Tumblr“einen Streit. Es geht um die Frage, welche Farbe ein Hochzeitskleid hat, das auf einem Foto zu sehen ist. Manche meinen, es sei definitiv gold-weiß; andere behaupten mit unbedingter Gewissheit, das Kleid sei blau-schwarz. Cates Holderness schreibt ihren Artikel in wenigen Minuten. Er ist sehr kurz und besteht streng genommen nur aus einer einzigen Frage, die sie zu dem Foto hinzufügt. Diese lautet: „Welche Farben hat dieses Kleid?“
Was dann folgt, ist ein Hype, der seinesgleichen sucht. Die Redakteure von „Buzzfeed“bemerken, wie sehr die Kleider-Story interessiert und Debatten in der digitalen Öffentlichkeit auslöst – ganz gleich, ob in den USA, in Indien, in Deutschland, Spanien oder in anderen Ländern. Sofort werden zahlreiche Mitarbeiter auf das Thema angesetzt, die sich um die Frage kümmern, wie das Phänomen der unterschiedlichen Farbwahrnehmung erklärbar ist, was Prominente über die Kleiderfarbe denken und woher das Foto eigentlich stammt.
Rund 40 Texte produziert das global agierende Medienunternehmen, das heute selbst in Turbulenzen geraten ist und weltweit Mitarbeiter entlassen muss, innerhalb weniger Tage. 52 Millionen Mal werden diese insgesamt angeklickt. 28 Millionen Mal wird irgendwo auf der Welt innerhalb der ersten 24 Stunden auf die Rätsel-Frage von Cates Holderness zugegriffen. Kurzum: Die Kleider-Story zeigt wie unter einem Brennglas, wie dramatisch sich Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung verändert. Denn hier ist es ein Textpartikel, der durch eine globalisierte Medienwelt diffundiert, von Netzwerk zu Netzwerk, von Plattform zu Plattform und von Land zu Land springt. Öffentlichkeit existiert hier in radikal entbündelter Form. Sie wird in Einzelelemente zerlegt – ohne Kopplung an eine übergreifende Medienmarke, einen gemeinsamen Diskurs oder ein Reservoir von Themen, die einen kollektiven, im konkreten Lebensraum verankerten Gesprächszusammenhang stiften.
Und das heißt eben auch: Man kann die Kleider-Story als eine Art Kontrastund Denkfolie benutzen, um einerseits die aktuelle Gefährdung und andererseits den besonderen Wert des Mediums Tageszeitung zu illustrieren. Denn selbstverständlich leben das Ideal und die Idee der Zeitung davon, dass man nicht nur einen Mini-Ausschnitt der Lebenswelt in Gestalt von Kuriositäten und Knalleffekten präsentiert, sondern ein größeres Bild, eine umfassendere Perspektive. Und ohne Frage kann ein Medium, das um Qualität bemüht ist, sich nicht allein an Popularitätswerten orientieren, sondern braucht die richtige Mischung aus Nähe und Distanz zu den heute so feinkörnig messbaren Vorlieben des Publikums. Mit anderen Worten: Tageszeitungen verkörpern gerade in Zeiten der digitalen Revolution, der rasanten Beschleunigung und der Zersplitterung von Öffentlichkeit ein eigenes publizistisches Wertesystem. Sie sind bedeutsam, weil sie als Spagat-Medien taugen, die Verbindung des Verschiedenen leisten.
Debatten-Forum in Zeiten der Isolation
Sie verbinden verschiedene Milieus im Akt der Kommunikation, bilden unterschiedliche Interessen und Perspektiven ab, kreieren einen kollektiven Diskursund Gesprächszusammenhang. Und sie wirken – gerade in Zeiten der Selbstisolation in den Echokammern sozialer Netzwerke – integrativ, weil sie ein Forum für Debatten bereitstellen, das der Vereinzelung von Wahrnehmungen entgegensteht, diese im Idealfall konterkariert, um schließlich die Kompromissfindung zu ermöglichen.
All dies, so muss man kühl konstatieren, ist in einer Zeit, in der die Clowns und Bullshiter, die Populisten und Lügner in Europa und den USA politisch Karriere machen, für das Fortbestehen einer Demokratie systemrelevant.
Und doch gehört es zur ganzen Wahrheit, dass es vielen Qualitätsmedien gegenwärtig nicht wirklich gut geht. Im Detail: Ganze Anzeigenmärkte der Tageszeitungen sind längst ins Netz gewandert. Einnahmen brechen weg, weil die Werbe-Etats schrittweise in Richtung der Digital-Giganten (Google, Facebook) umgeschichtet werden. Und die Auflage vieler Tageszeitungen bröckelt leise vor sich hin, weil sich viele Menschen längst an die kostenlose Verfügbarkeit von Informationen gewöhnt haben und Paid-Content-Modelle, Bezahlschranken für die
Online-Angebote, die ausfallenden Einnahmen noch nicht wirklich ausgleichen können.
Gleichzeitig sind soziale Netzwerke wie Facebook inzwischen derart mächtig, dass dem Journalismus insgesamt – auch dies ist ein globaler Trend – allmählich die Hoheit über die eigenen Vertriebskanäle zu entgleiten droht. Denn faktisch werden Informationen unterschiedlichster Güte heute von jüngeren Menschen zunehmend in sozialen Netzwerken wahrgenommen, nicht jedoch auf der Ursprungswebsite einer Zeitung oder gar in gedruckter, gebündelter Form, was die Identifikation mit dem redaktionellen Ur-Medium schwieriger macht.
In dieser Situation einer laufenden Medienrevolution lautet die Eine-Million-Euro-Frage: Wie lässt sich Qualität refinanzieren? Und weiter: Wie erhält man die Akzeptanz für das Medium und erzeugt sie neu? Was können Redaktionen und Verleger dafür tun, was muss auch das Publikum leisten, was wäre die Aufgabe von Schulen und Hochschulen? Ich will abschließend drei Thesen zu diesen Fragen formulieren, die gewiss keine Fertigrezepte der Krisen- und Zukunftsbewältigung liefern, vielleicht jedoch eine Richtung anzeigen.
Die erste These: Die Tageszeitung muss den Modus ihrer – unvermeidlich – entschleunigten, verzögerten Verarbeitung und Verbreitung von Information systematisch als Stärke beschreiben. Sie sollte sich in Zeiten der Beschleunigung, des kommentierenden Sofortismus und der Schnell-Schnell-Nachrichten als das Medium des zweiten Gedankens und der hintergründigen Analyse präsentieren, das immer wieder auch eine Aktualität hinter der Aktualität sichtbar werden lässt.
Die zweite These: Die Tageszeitung könnte sich als Medium der angemessen-maßvollen, der überzeugenden Kritik und Kontrolle begreifen. Offensichtlich ist: Wir brauchen in Zeiten der Pöbel-Attacken ein richtiges Maß, eine gute, stimmige, an Qualität und Relevanz orientierte Balance zwischen der entschiedenen Skandalisierung von Sachverhalten und Missständen und dem bloßen Hochjazzen irgendwelcher Aufreger. In dieser Gemengelage könnte die Tageszeitung punkten, indem sie das tatsächlich Skandalöse
mit aller Entschiedenheit skandalisiert, aber im Grundsatz einem Ideal der Mäßigung folgt, das in Zeiten der vergifteten Debatten an Bedeutung gewinnt.
Die dritte These bringt das Publikum selbst ins Spiel: Tageszeitungen müssen durch Berichte in eigener Sache, öffentliche Veranstaltungen und Dialogprojekte mit jungen und älteren Lesern noch stärker als bisher ein Bewusstsein wecken für die Ökonomie der Qualität und das Refinanzierungsproblem eines rechercheintensiven Journalismus. Die Bewusstseinsbildung für den Wert des Gedruckten findet im Moment der Krise noch nicht ausreichend statt. Warum kostet seriös aufbereitete Information unvermeidlich Geld? Und wie funktioniert die Ökonomie der Qualität? Auf diese Fragen benötigen jene, die für eine Zeitung bezahlen, eine unmittelbar einleuchtende Antwort.
Es geht um das Kommunikationsklima
Eigentlich, davon bin ich inzwischen überzeugt, muss diese Antwort schon in der Schule vermittelt werden. Denn die zentrale Paradoxie der digitalen Gesellschaft besteht darin: Wir sind medienmächtig geworden, aber noch nicht medienmündig. Wir bestimmen durch Postings und Kommentare, durch Klicks und Likes ganz unmittelbar darüber, wie sich das Kommunikationsklima verändert, ob sich die Lautesten durchsetzen oder diejenigen mit dem klügsten Argument. Aber noch fehlt das Wissen, noch fehlt das gesellschaftliche Bewusstsein, in welchem Maße in Zeiten von Fake-News und systematischer Desinformation die Sphäre der Öffentlichkeit, verstanden als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie, geschützt werden muss. Und warum wir einen qualifizierten Journalismus brauchen, der verbindet, nicht trennt.
Ob die Zeit reicht für den nötigen Bewusstseinswandel und für die Transformation der digitalen Gesellschaft der Gegenwart in die redaktionelle Gesellschaft der Zukunft? Das vermag heute niemand mit Gewissheit zu sagen. Aber sicher ist, dass eine freie, offene, um den Ausgleich von unterschiedlichen Interessen bemühte Gesellschaft starke, vitale Spagat-Medien unbedingt braucht. Sie sind wichtiger denn je.
Wir alle bestimmen darüber, ob sich die Lautesten durchsetzen oder diejenigen mit dem klügsten Argument.
ILLUSTRATION: JÖRG BLOCK