Den Unsichtbaren Mut machen
In der Freiburger „StraßenSchule“finden junge Wohnsitzlose Halt und Hoffnung – sofern sie bereit sind, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.
Wenn die Sonne aufgeht in Freiburg, wird es Zeit für Gregor*, seine Sachen zu packen. Der 25-Jährige rollt seinen Schlafsack ein, in dem er unter einem Fußgängersteg am Leopoldring am Rande der Innenstadt die Nacht verbracht hat, stopft Wasserflasche, eine Tüte Cornflakes und den zerfransten Pullover, der ihm als Kissen gedient hat, in eine zerschlissene Sporttasche. Alles wird auf dem Gepäckträger eines klapprigen Fahrrades festgezurrt – Gregor ist bereit für den Tag, der für ihn aus dem immer gleichen Rhythmus bestehen wird: in der Fußgängerzone Geld schnorren, etwas zu essen besorgen, später einen Schlafplatz suchen. Der junge Mann ist einer von rund 500 Menschen im Alter zwischen 15 und 27 Jahren in der Stadt, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben und von der Freiburger „StraßenSchule“begleitet und unterstützt werden.
Ann Lorenz, die Bereichs- und Teamleiterin der Einrichtung, sitzt in einem hellen Büro in der Moltkestraße gleich hinter der Universitätsbibliothek und erklärt den Unterschied ihrer Arbeit zu den zahlreichen Angeboten, die es in der Stadt auch für ältere Wohnungslose gibt: „Junge Menschen haben einen anderen Bedarf“, sagt die studierte Sozialpädagogin, die seit sechs Jahren für die „StraßenSchule“arbeitet. „Bei ihnen geht es auch um Erziehungsfragen und darum, Perspektiven zu entwickeln.“Bei Leuten, die schon 20 Jahre oder länger auf der Straße leben, stehe hingegen die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung oder Medizin im Mittelpunkt.
Junge Obdachlose wie Gregor finden in der Tagesanlaufstelle, die die Einrichtung betreibt, einen Platz, an dem sie unter sich sind. In einem Altbau im Stadtteil Wiehre gibt es Essen, Duschen, Waschmaschinen, Internet und ein Kleiderregal. „20 bis 30 Leute mit 10 bis 15 Hunden kommen jeden Tag“, sagt Ann Lorenz, „es ist ein Schutzraum für sie.“Zudem kann die Adresse der Anlaufstelle als Postanschrift verwendet werden – eine wichtige Funktion, um Alltagsangelegenheiten zu regeln: vom Behördenkontakt über die Bewerbung für einen Job bis zur Wohnungssuche.
Auch die Galerie „UpArt“ist in der Anlaufstelle untergebracht. Hier können Interessierte ihre Erfahrungen verarbeiten, indem sie malen, basteln, nähen oder Musik machen. „Mit der kreativen Arbeit kommen wir auf andere Art mit den Leuten ins Gespräch“, sagt Ann Lorenz. Sieben Sozialarbeiter stehen bereit, um mit den Gestrandeten Hilfepläne zu formulieren, Anträge zu stellen oder einen Ausbildungsplatz zu suchen. Die 25-jährige Lina* gehört zu denjenigen, die von der Anlaufstelle profitiert haben. Mit 17 war sie aus ihrem Elternhaus auf die Straße geflüchtet, Schulabbruch inklusive. Alkohol und Gewalt im Elternhaus hatten ihren Alltag geprägt. Fünf Jahre lang zog sie als Obdachlose durch Deutschland, schlief wie Gregor unter Brücken oder im Wald. In der „StraßenSchule“habe sie erstmals Vertrauen zu Erwachsenen entwickelt, erzählt sie. Es war die Grundlage für den Weg zurück in die „normale Welt“, Lina macht inzwischen eine Ausbildung im Sozialwesen.
Generell sind Männer leicht in der Mehrheit in der Straßenjugendszene, wie das Deutsche Jugendinstitut
Bei uns bekommen die Leute die Chance, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Christine Devic Öffentlichkeitsarbeit Freiburger StraßenSchule
festgestellt hat. Doch in der Wohnungslosenhilfe gebe es auch die Erkenntnis „je jünger, umso weiblicher“, sagt Ann Lorenz. Das könnte daran liegen, dass heranwachsende Frauen generell schneller als Jungs bereit sind, in einer Notlage um Hilfe zu bitten. Im Gegenzug finden sie häufig auch schneller wieder den Weg aus der Szene.
Für die Mitarbeiter der „StraßenSchule“heißt es zunächst, Vertrauen zu Menschen herzustellen, die jegliches Vertrauen verloren haben. „Wir sind Erwachsene und kommen aus dem pädagogischen Spektrum“, sagt Christine Devic, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und Beschaffung von Fördermitteln. „Das wirkt auf junge Menschen mit erschwerender Biografie meist erstmal abschreckend.“Viele Leute aus der Szene hätten schlechte Erfahrungen mit Eltern, Lehrern oder Behördenmitarbeitern hinter sich, mit Vorschriften seien sie nicht erreichbar. Deshalb gelte es, ein neues Angebot zu machen, das sich von den bereits bekannten Hilfen unterscheide. „Bei uns bekommen die Leute die Möglichkeit, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden und die Verantwortung für ihr Leben zu tragen“, sagt Devic. Freiwilligkeit lautet die oberste Devise in der Einrichtung, die 1997 vom Freiburger „StraßenSchule e.V.“gegründet wurde. 2009 stieg das SOS-Kinderdorf Schwarzwald in die Trägerschaft ein. Kein Wohnungsloser wird gedrängt, sich helfen zu lassen. „Die Leute arbeiten selbst an ihrer Entwicklung, unser Team ist da, um Mut zu machen,“betont die gelernte Gesellschaftswissenschaftlerin Devic.
Dazu gehört, sich sichtbar zu m achen für Menschen, die sich wie Aussätzige fühlen, am liebsten unsichtbar bleiben wollen und dennoch – oft unbewusst – großen Redebedarf haben. Deshalb taucht der „bunte Bus“der Einrichtung regelmäßig in der Stadt auf, die Mitarbeiter schauen an den bekannten Treffpunkten der Obdachlosen vorbei, bieten Gespräche und Hilfe an. „Manche brauchen ein ganzes Jahr, bis sie mit uns reden“, erzählt Ann Lorenz, „andere kommen gleich am ersten Tag mit ihrer ganzen Lebensgeschichte.“
Ist eine Vertrauensbasis entstanden, wird über Träume gesprochen: Welche Ideen hast Du, wie möchtest Du sie umsetzen, was ist der erste Schritt? Ein entscheidender Prozess, schließlich haben die jungen Leute, die auf der Straße gelandet sind, meist jegliches Selbstbewusstsein verloren. „Manche trauen sich nicht zu träumen, weil sie glauben, sie schaffen es ohnehin nicht“, sagt Lorenz. „Bei uns kommen sie zur Ruhe und entwickeln Perspektiven.“Auch in Wohnprojekten können Obdachlose versuchen, die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen.
Tatsächlich gelinge es ihren Klienten mit Hilfe der „StraßenSchule“häufig, innerhalb von zwei oder drei Jahren eine eigene Wohnung und einen Job zu finden, sagt Ann Lorenz. Dann ist es eine richtige Erfolgsgeschichte. Sie beginnt, wenn Gestrandete wie Gregor mit Sack und Pack vor der Türe stehen und kundtun: Ich will mit Euch arbeiten.
* Name von der Redaktion geändert.