Die rote Schildkröte
Animation
Vor der Antwort auf diese Frage zunächst ein paar Fakten: Der Oscar-nominierte Animationsfilm „Die rote Schildkröte“ist kein neues Werk von Hayao Miyazaki, dem eindeutig bekanntesten Namen von Studio Ghibli, und er ist mit dem Projekt auch in keiner Weise namentlich verbunden. Ghibli-Hausproduzent Toshio Suzuki wird in den Credits aufgeführt, interessanter dürfte aber die Nennung von Isao Takahata („Die letzten Glühwürmchen“, „Heidi“) als „künstlerischer Produzent“sein. Doch ohne jede Frage ist „Die rote Schildkröte“kein Anime, sondern ein europäischer Film, ganz das Kind seines Schöpfers Michael Dudok de Witt. Wer also angesichts des Logos auf der Blu-ray-Hülle einen klassischen Ghibli-Film im Stile von „Prinzessin Mononoke“oder „Mein Nachbar Totoro“erhofft, der sollte diese Hoffnung fahren lassen und sich auf eine andere Art Zeichentrickfilm einlassen, einen Film, der den Vorstellungen, die man mit „Ghibli“verbindet, zwar nicht entspricht, der dem renommierten Namen aber dennoch Ehre macht.
Robinson Crusoe
Der in den Niederlanden geborene Dudok de Witt erzählt in seinem Langfilm-Debüt eine im Kern simple Geschichte, die als märchenhafte Variation einer Robinson Crusoe-Prämisse ganz ohne Dialoge, ja, sogar ganz ohne Worte auskommt: Ein Schiffbrüchiger unbekannten Namens findet sich nach einem gewaltigen Sturm auf einer einsamen Insel wieder. Bei der Erkundung des Eilands findet er Wasser wie auch Früchte und Tiere vor, zudem einen tiefen Bambuswald. Entschlossen, dem Inselgefängnis zu entkommen, baut er aus Bambusstämmen ein stabiles Floß, auf dem er sich auf die Reise begibt. Diese fällt allerdings kurz aus, zerstört doch eine unbekannte Kreatur das Floß direkt unter seinen Füßen, sodass der Schiffbrüchige keine Wahl hat, als zur Insel zurückzukehren. Entmutigen lässt er sich durch den Misserfolg nicht, ein zweiter Fluchtversuch scheitert jedoch ebenso wie der erste. Auch beim dritten Anlauf wird das Floß zertrümmert, diesmal kann der Schiffbrüchige den Schuldigen allerdings erkennen: Es handelt sich um eine große, rote Schildkröte. Wieder bleibt nur der Weg zurück zur Insel. Als das Reptil jedoch ebenfalls an Land kriechen will, haut der Schiffbrüchige ihm mit dem Knüppel über den Schädel und dreht das Tier auf den Rücken, das darauf nur hilflos mit den Gliedern zappeln kann. Später reut den Schiffbrüchigen seine Tat, aber es ist zu spät, die Schildkröte ist tot. In der Nacht jedoch verwandelt sich das tote Tier in eine Frau. Der Schiffbrüchige versucht, sie wiederzubeleben, baut ihr ein Lager, flößt ihr Wasser ein, und schließlich wird seine Mühe belohnt. Sie lebt. Als er sieht, wie die Frau den Schildkrötenpanzer zurück ins Meer wirft, entsorgt er sein neues Floß auf die selbe Weise. Es scheint, als haben unter unwahrscheinlichsten Umständen zwei Wesen zueinander gefunden.
Von diesem Punkt an springt die Handlung vorwärts durch die Jahre, gewährt Einblicke in die einfachen Freuden des Insellebens, lässt den Zuschauer teilhaben am Liebes- und späteren Elternglück, an Abenteuern und Entdeckungen, an Missgeschicken und Ungemach, bevor der Kreis sich endlich schließt, leise und unaufgeregt.
Im Stile von Hergé
Leise und unaufgeregt sind auch die passenden Worte, um „Die Rote Schildkröte“zu beschreiben. Es beginnt bei den einfachen Zeichnungen, den simplen Designs der wenigen Charaktere, die an franko-belgische Comics erinnern. Die Hintergründe hingegen gleichen KinderbuchIllustrationen, so hübsch, wie sie sind, lassen sie doch den Detailreichtum der gezeichneten Kulissen in den Miyazaki-Produktionen oder die märchenhafte Reduktion auf das Wesentliche wie in den Tusche-Zeichnungen eines „Prinzessin Kaguya“vermissen. In einigen wenigen Momenten erscheinen sie regelrecht lieb- und leblos, ein Eindruck, der durch seltenen CGI-Einsatz noch verstärkt wird. Über die Animationen lässt sich Ähnliches glücklicherweise nicht sagen, so simpel die Figuren auch gezeichnet sind, so expressiv bewegen sie sich, so glaubwürdig vermitteln sie ihre Gefühle. Und das ist wichtig, liegt die Stärke des Filmes doch in der Atmosphäre, in den Stimmungen, in den Emotionen, die er transportiert. Es sind kleine Szenen, die nicht weltbewegend erscheinen, aber doch das Herz rühren in ihrer Unschuld, ihrer Verzweiflung, ihrer Traurigkeit oder ihrem Glück. Es lässt sich schwer benennen, wieso dem Film dieses Kunststück derart gelingt, doch es lässt sich auch nicht leugnen, dass es ihm gelingt. Der Soundtrack mag mitverantwortlich sein, episch instrumentiert und emotional aufwühlend, doch sparsam eingesetzt und vom Regisseur behutsam platziert um zu akzentuieren, nicht um zu dominieren. Idealerweise sollte „Die rote Schildkröte“ohne konkrete Erwartungen – insbesondere solche, die mit dem Studionamen verknüpft sind – erlebt und genossen werden. Der Film steht für sich und er überzeugt für sich. In einer besseren Welt hätte er die Involvierung von Studio Ghibli weder bei der Finanzierung noch bei der Vermarktung nötig. Doch in der Welt, in der wir uns befinden, sorgte diese vermutlich dafür, dass aus den Träumen und Ideen des Regisseurs Realität wurde, sorgte sie dafür, dass dem Realität gewordenen Traum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dafür danke, Studio Ghibli! Vor allem aber: Danke, Michael Dudok de Witt!