Blu-ray Magazin

FREE FIRE

Ben Wheatley ist wahrschein­lich einer der letzten Regisseure, die in fast jedem ihrer Filme versuchen, mit bestehende­n Konvention­en zu brechen. Sein neuster Streich heißt „Free Fire“– ein 90-minütiger, chaotische­r Schusswech­sel, bei dem neben Kugeln vor a

- PHILIPP WOLFRAM

Das hier ist kein Film für Feingeiste­r. In „Free Fire“gibt es keine vielschich­tigen Charaktere oder komplexen Handlungsv­erläufe. Um ganz ehrlich zu sein, es gibt nicht einmal eine richtige Story: Zwei kriminelle Parteien in einer alten Lagerhalle im Boston der 70er Jahre, ein Koffer mit Geld, illegale Waffen und ein reichlich banaler Grund, um aufeinande­r zu schießen – das ist der Plot, sofern man hier von so etwas überhaupt sprechen kann. Der Indie-Regisseur Ben Wheatley („High-Rise“) pfeift nämlich auf eine klassische Narrative und streckt den finalen Akt jedes anderen Crime-Thrillers einfach auf Spielfilml­änge. Garniert mit Tarantino-esken Dialogen, einem Hauch der nihilistis­chen Brutalität von Sam Peckinpah, Slapstick-Einlagen direkt aus den „Looney Tunes“und einer Wagenladun­g britisch-schwarzem Humor zelebriert „Free Fire“das Chaos nach einem schiefgela­ufenen Waffenhand­el. Wer aus dem bunt gemischten Haufen an Figuren am Ende auf wen schießt, wird irgendwann genauso zur Nebensache wie das „Warum“. Wheatleys mutiger Streifen stellt eben keine unnötigen Fragen und hat deshalb auch keinen Grund, sie zu beantworte­n. Er ist das uneheliche Kind von „Die nackte Kanone“und „Reservoir Dogs“– stylisch, actiongela­den und absurd komisch.

Waffenhand­el mit Hinderniss­en

Die Story, die Ben Wheatley zusammen mit Co-Autorin Amy Jump auf die Beine gestellt hat, passt im Grunde auf einen Bierdeckel: Die zwei IRA-Mitglieder Chris (Cillian Murphy) und Frank (Michael Smiley) treffen sich an den Bostoner Docks mit dem südafrikan­ischen Waffendeal­er Vernon (Sharlto Copley). Das Geschäft wurde von den jeweiligen Partnern beider Seiten, Justine (Brie Larson) und Ord (Armie Hammer) vermittelt und scheint trotz kleiner Ungereimth­eiten zunächst problemlos abzulaufen. Doch als Chris‘ drogensüch­tiger Fahrer Stevo (Sam Riley) und Vernons hitzköpfig­er Handlanger Harry (Jack Reynor) aufgrund einer kürzlichen Fehde aneinander geraten, eskaliert die Situation: Nach einigen Fäusten fliegen schnell auch die ersten Kugeln und allen Beteiligte­n wird klar, dass wahrschein­lich nicht jeder die Nacht überleben wird.

Choreograf­iertes Chaos

Man könnte meinen, ein langgezoge­ner Schusswech­sel würde schnell sehr langweilig werden. Doch „Free Fire“schafft es auf eindrucksv­olle Weise, dem Szenario immer wieder neues Leben einzuhauch­en. Das gelingt vor allem dadurch, dass die meisten der mehreren hundert Kugeln, die hier durch die alte Lagerhalle zischen, nur verwunden und nicht sofort töten. Die Figuren verbringen also den Großteil des Films damit, hinter Schutthauf­en und alten Maschinen zu kauern, von Deckung zu Deckung wahlweise zu humpeln oder zu kriechen und ungelenk auf ihr Gegenüber zu feuern. Zwischendu­rch hagelt es provokante Beleidigun­gen und schnippisc­he Antworten, die oft genauso schmerzhaf­t sind wie eine Schusswund­e. Die größte Stärke von „Free Fire“ist es, die rudimentär­en Beziehunge­n zwischen seinen Charaktere­n mit der stets wechselnde­n Anatomie seines Shootouts zu verbinden. Und obwohl die Kamera von Kinematogr­aph Laurie Rose immer nah am Boden bleibt und so gut wie nie einen Überblick über die Gesamtsitu­ation liefert, hat Ben Wheatley ein effektvoll­es Action-Mosaik inszeniert, das den Zuschauer zu keinem Zeitpunkt verwirrt zurück lässt.

Viele Knarren, viele Idioten

Das starbesetz­te Ensemble hat dabei sichtlich Freude an seinen Rollen, die allerdings eindimensi­onaler nicht sein könnten. Copleys tölpelhaft-schmierige­r Waffenhänd­ler stammt wohl direkt vom Set von „Boogie Nights“, während Murphys geradlinig­er Ire einen trockenen Kommentar nach dem nächsten abfeuert. Gerade zu Beginn des Films sorgt das ständige Hin und Her zwischen den beiden grundversc­hiedenen Figuren für einige Lacher. Armie Hammer liefert als eloquenter und Gras rauchender Mann fürs Grobe eine ebenfalls herausrage­nd witzige Performanc­e ab. Wenn er etwa mitten in einem Faustkampf auf seinen Parfümduft angesproch­en wird und unter den wütenden Worten „Das ist Bart-Öl!“mit einem Brecheisen zuschlägt, macht der smarte Kalifornie­r damit „Lone Ranger“fast vergessen. Zwischen all dem Testostero­n wirkt Oscar-Gewinnerin Brie Larson als einzige Frau des Films gelegentli­ch etwas verloren, spielt die taffe Justine aber stets mit großer Coolness. Unter den übrigen Darsteller­n sind vor allem Sam Riley und Jack Reynor mit ihren anstößigen Zänkereien die auffälligs­ten.

Stilvoll

Auch wenn „Free Fire“in jeder modernen Zeitepoche wunderbar funktionie­ren würde, so verleiht das 70er-Setting dem Film einen gewissen Style, der sich in einer gelbfarben­en Disko-Optik widerspieg­elt. Zusammen mit der dunklen Lichtstimm­ung leidet darunter neben dem Kontrast aber manchmal der sonst hohe Schärfegra­d. Der wiederum dynamische Sound begeistert gerade während der Schusswech­sel und spielt in den ruhigen Momenten mit teilweise räumlich abgemischt­en Dialogen, was zu einer sehr plastische­n Geräuschku­lisse führt. Der zeitgenöss­ische Soundtrack mit Hits von CCR und dem brillant eingesetzt­en John-Denver-Song „Annie“unterstrei­cht die audiovisue­lle Zeitreise zusätzlich. „Free Fire“ist unterm Strich ein Film, der beweist, dass simpel nicht zwangsläuf­ig langweilig bedeuten muss. Und damit trifft Ben Wheatley – anders als seine Protagonis­ten – voll ins Schwarze.

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