Midnight Sun
DIE KOMPLETTE 1. STAFFEL
So zahlreich skandinavische Krimis im Fernsehen auch zu sehen sind, hochwertiger Nachschub ist doch immer willkommen, auch wenn er, wie im Falle von „Midnight Sun“schon zwei Jahre auf dem Buckel hat. Doch besser spät als überhaupt nicht!
Die frühen Sommermonate sind in der Bergbaustadt Kiruna, der nördlichsten Stadt Schwedens, eine Zeit ewigen Lichts. Kein nächtliches Entkommen gibt es vor den Strahlen einer nicht untergehenden Sonne. Doch wo die Sonne hell scheint, sind die Schatten um so finsterer. Und finstere Schatten verbergen häufig noch viel finstereres Treiben.
Viel finsterer als die letzten Minuten im Leben eines Mannes, der erwacht und sich auf dem Rotorblatt eines Hubschraubers festgezurrt sieht, kann es kaum werden. Als der Rotor sich zu drehen beginnt bleibt noch Zeit für einen Schrei in höchster Todesangst. Es ist ein langer und qualvoller Schrei. Als Stunden später der mit der Aufklärung des Mordes – und um einen solchen handelt es sich ganz offensichtlich – betraute Staatsanwalt Rutger Burlin (Peter Stormare) die Leiche des unglücklichen Opfers untersucht, finden er und sein Team dessen Überreste über viele Quadratmeter verstreut. Immerhin können Identität und Nationalität des Mannes festgestellt werden. Und da es sich bei Pierre Carnot um einen französischen Staatsbürger handelt, macht sich Kahina Zadi (Leila Bekhti), eine Polizistin der Grande Nation, auf den Weg nach Kiruna, mitten im alten Lappland.
Frankreich trifft Norden
Für die taffe Ermittlerin algerischer Herkunft ist die abgeschiedene schwedische Kleinstadt wie eine neue, seltsame Welt, doch bleibt zunächst keine Zeit fürs Akklimatisieren. Die ersten Untersuchungen werfen neue Fragen auf, doch auch Kiruna selbst und dessen Einwohner hüllen sich in Rätsel. Die Stadt ist auf Gedeih und Verderben abhängig vom einzigen großen Arbeitgeber der Region, dem Betreiberkonzern der riesigen Mine, für deren optimale Ausbeutung der ganze Ort abgetragen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden soll. Und just zu dieser Firma weisen erste Spuren. Doch derweil das schwedisch-französischen Ermittlerteam noch den Fall untersucht, erschüttert der nächste grausame Mord die Stadt, und schnell wird klar, dass es wohl nicht der letzte gewesen sein wird. Nicht einmal die Ermittler selbst können sich bei ihren Untersuchungen sicher fühlen. Es ist ein düsteres, zugleich aber auch wunderschönes und reiches Panorama, das die beiden Regisseure Måns Mårlind und Björn Stein („Die Brücke“, „Underworld: Awakening“) in ihrer acht Folgen starken Miniserie vom schwedischen Norden zeichnen. Geschickt knüpfen sie einen breiten Erzählteppich, in dessen Struktur sie reale Ereignisse wie eben die geplante Umsiedlung Kirunas bis 2040 einarbeiten. Ein schlanker, geradliniger Krimi ist „Midnight Sun“trotz seiner überschaubaren Episodenzahl nicht geworden, die Schilderung der Lebensumstände von Polizisten und Stadtbewohnern ist den Machern der Serie offensichtlich genauso wichtig wie die Hintergründe der Verbrechen. Überaus faszinierend ist dabei die Darstellung der Sami, der einst als „Lappen“bekannten Ureinwohner der Region, die sich leider noch immer häufiger Diskriminierung ausgesetzt sehen. Dabei werden die Sami nicht nur als folkloristischer Farbtupfer eingesetzt, sondern ihr Schicksal und ihr Mythos werden raffiniert mit dem Fall verknüpft.
Überbordender Krimi
Es lässt sich allerdings kaum bestreiten, dass es die Serie mit ihren zahlreichen Geheimnissen beizeiten ein wenig übertreibt. Reicht nach Ansicht der kreativen Köpfe hinter „Midnight Sun“eine Mordserie, die an kreativer Perversität kaum zu überbieten ist, vor dem Hintergrund einschneidender Veränderungen und dem Schicksal einer über Jahrhunderte diskriminierten Volksgruppe wirklich nicht aus, um das Interesse des Publikums aufrecht zu halten? Braucht es in diesem Kontext wirklich noch regelmäßige Rückblenden, die bezüglich der Vergangenheit der französischen Polizistin nach Aufmerksamkeit heischen? Braucht es Andeutungen und vage Hinweise auf noch mehr Mystery, so dass keine Minute mehr ohne Fragezeichen vergeht? Ruhemomente, in denen sich die Zuschauer kurz fallen lassen können, gibt es wenige, hier herrscht stetige Anspannung. Erstaunlicherweise fällt das Erzähltempo trotz des Überflusses an Nebenhandlungen und dunklen Geheimnissen eher getragen aus, eine Hetzjagd findet in „Midnight Sun“ganz deutlich nicht statt, trotz der wachsenden Bedrohung. Dank des sehr speziellen Kleinstadtszenarios, des erzählerischen Schlenderns und des Sinns für makabre Abgründigkeiten erinnert die Serie immer wieder an „Fargo“, dessen Lust am Übergeschnappten und an überlebensgroßen Charakteren „Midnight Sun“allerdings nur in geringerem Maße teilt.
Es sei angemerkt, dass die Kritik an der Überfrachtung der Serie mit Geheimnisschinderei Meckern auf hohem Niveau ist und keine Aufforderung, „Midnight Sun“zu meiden. Ein faszinierender Kriminalfall, großartiges Lokalkolorit und eine unerhört attraktive Präsentation sprechen deutlich für sich. Nur für den entspannten Krimi-Snack nach Feierabend eignet sich die Serie eher nicht.