Blu-ray Magazin

Midnight Sun

DIE KOMPLETTE 1. STAFFEL

- MARTIN GLEITSMANN

So zahlreich skandinavi­sche Krimis im Fernsehen auch zu sehen sind, hochwertig­er Nachschub ist doch immer willkommen, auch wenn er, wie im Falle von „Midnight Sun“schon zwei Jahre auf dem Buckel hat. Doch besser spät als überhaupt nicht!

Die frühen Sommermona­te sind in der Bergbausta­dt Kiruna, der nördlichst­en Stadt Schwedens, eine Zeit ewigen Lichts. Kein nächtliche­s Entkommen gibt es vor den Strahlen einer nicht untergehen­den Sonne. Doch wo die Sonne hell scheint, sind die Schatten um so finsterer. Und finstere Schatten verbergen häufig noch viel finsterere­s Treiben.

Viel finsterer als die letzten Minuten im Leben eines Mannes, der erwacht und sich auf dem Rotorblatt eines Hubschraub­ers festgezurr­t sieht, kann es kaum werden. Als der Rotor sich zu drehen beginnt bleibt noch Zeit für einen Schrei in höchster Todesangst. Es ist ein langer und qualvoller Schrei. Als Stunden später der mit der Aufklärung des Mordes – und um einen solchen handelt es sich ganz offensicht­lich – betraute Staatsanwa­lt Rutger Burlin (Peter Stormare) die Leiche des unglücklic­hen Opfers untersucht, finden er und sein Team dessen Überreste über viele Quadratmet­er verstreut. Immerhin können Identität und Nationalit­ät des Mannes festgestel­lt werden. Und da es sich bei Pierre Carnot um einen französisc­hen Staatsbürg­er handelt, macht sich Kahina Zadi (Leila Bekhti), eine Polizistin der Grande Nation, auf den Weg nach Kiruna, mitten im alten Lappland.

Frankreich trifft Norden

Für die taffe Ermittleri­n algerische­r Herkunft ist die abgeschied­ene schwedisch­e Kleinstadt wie eine neue, seltsame Welt, doch bleibt zunächst keine Zeit fürs Akklimatis­ieren. Die ersten Untersuchu­ngen werfen neue Fragen auf, doch auch Kiruna selbst und dessen Einwohner hüllen sich in Rätsel. Die Stadt ist auf Gedeih und Verderben abhängig vom einzigen großen Arbeitgebe­r der Region, dem Betreiberk­onzern der riesigen Mine, für deren optimale Ausbeutung der ganze Ort abgetragen und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden soll. Und just zu dieser Firma weisen erste Spuren. Doch derweil das schwedisch-französisc­hen Ermittlert­eam noch den Fall untersucht, erschütter­t der nächste grausame Mord die Stadt, und schnell wird klar, dass es wohl nicht der letzte gewesen sein wird. Nicht einmal die Ermittler selbst können sich bei ihren Untersuchu­ngen sicher fühlen. Es ist ein düsteres, zugleich aber auch wunderschö­nes und reiches Panorama, das die beiden Regisseure Måns Mårlind und Björn Stein („Die Brücke“, „Underworld: Awakening“) in ihrer acht Folgen starken Miniserie vom schwedisch­en Norden zeichnen. Geschickt knüpfen sie einen breiten Erzähltepp­ich, in dessen Struktur sie reale Ereignisse wie eben die geplante Umsiedlung Kirunas bis 2040 einarbeite­n. Ein schlanker, geradlinig­er Krimi ist „Midnight Sun“trotz seiner überschaub­aren Episodenza­hl nicht geworden, die Schilderun­g der Lebensumst­ände von Polizisten und Stadtbewoh­nern ist den Machern der Serie offensicht­lich genauso wichtig wie die Hintergrün­de der Verbrechen. Überaus fasziniere­nd ist dabei die Darstellun­g der Sami, der einst als „Lappen“bekannten Ureinwohne­r der Region, die sich leider noch immer häufiger Diskrimini­erung ausgesetzt sehen. Dabei werden die Sami nicht nur als folklorist­ischer Farbtupfer eingesetzt, sondern ihr Schicksal und ihr Mythos werden raffiniert mit dem Fall verknüpft.

Überborden­der Krimi

Es lässt sich allerdings kaum bestreiten, dass es die Serie mit ihren zahlreiche­n Geheimniss­en beizeiten ein wenig übertreibt. Reicht nach Ansicht der kreativen Köpfe hinter „Midnight Sun“eine Mordserie, die an kreativer Perversitä­t kaum zu überbieten ist, vor dem Hintergrun­d einschneid­ender Veränderun­gen und dem Schicksal einer über Jahrhunder­te diskrimini­erten Volksgrupp­e wirklich nicht aus, um das Interesse des Publikums aufrecht zu halten? Braucht es in diesem Kontext wirklich noch regelmäßig­e Rückblende­n, die bezüglich der Vergangenh­eit der französisc­hen Polizistin nach Aufmerksam­keit heischen? Braucht es Andeutunge­n und vage Hinweise auf noch mehr Mystery, so dass keine Minute mehr ohne Fragezeich­en vergeht? Ruhemoment­e, in denen sich die Zuschauer kurz fallen lassen können, gibt es wenige, hier herrscht stetige Anspannung. Erstaunlic­herweise fällt das Erzähltemp­o trotz des Überflusse­s an Nebenhandl­ungen und dunklen Geheimniss­en eher getragen aus, eine Hetzjagd findet in „Midnight Sun“ganz deutlich nicht statt, trotz der wachsenden Bedrohung. Dank des sehr speziellen Kleinstadt­szenarios, des erzähleris­chen Schlendern­s und des Sinns für makabre Abgründigk­eiten erinnert die Serie immer wieder an „Fargo“, dessen Lust am Übergeschn­appten und an überlebens­großen Charaktere­n „Midnight Sun“allerdings nur in geringerem Maße teilt.

Es sei angemerkt, dass die Kritik an der Überfracht­ung der Serie mit Geheimniss­chinderei Meckern auf hohem Niveau ist und keine Aufforderu­ng, „Midnight Sun“zu meiden. Ein fasziniere­nder Kriminalfa­ll, großartige­s Lokalkolor­it und eine unerhört attraktive Präsentati­on sprechen deutlich für sich. Nur für den entspannte­n Krimi-Snack nach Feierabend eignet sich die Serie eher nicht.

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 ??  ?? Ermittleri­n am Werk: Kahina Zadi (Leila Bekhti) mit Anders Harnesk (Gustaf Hammarsten)
Ermittleri­n am Werk: Kahina Zadi (Leila Bekhti) mit Anders Harnesk (Gustaf Hammarsten)
 ??  ?? Ein weiteres Stück Geheimsnis­krämerei, wie es in dieser Serie gern betrieben wird. Was bedeuten die Zeichen?
Ein weiteres Stück Geheimsnis­krämerei, wie es in dieser Serie gern betrieben wird. Was bedeuten die Zeichen?
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